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  • AutorenbildDie Textgestaltende

Heißhunger


„Hände hoch!“

Ich erstarre. Eben dachte ich noch, ich stehe mutterseelenalleine an der Bushaltestelle. Doch wie aus dem Nichts scheint plötzlich jemand hinter mir aufgetaucht zu sein. Ich atme geräuschvoll ein. „Kein Mucks!“, zischt die Stimme mir in mein rechtes Ohr, noch bevor ich etwas sagen kann. Dabei verstärkt sich der punktuelle Druck an meinem Rücken. Hatte der Fremde etwa wirklich eine Pistole dabei? Zaghaft versuche ich, einen Gegendruck an den harten Punkt in meinen Rücken zu bekommen. Tatsächlich – hart, kühl, kleiner Durchmesser. „Scheiße!“ Fast hätte ich das Wort laut ausgesprochen, doch ich besinne mich eines Besseren.


Was will der nur von mir? Die Gedanken schlagen Purzelbäume in meinem Kopf. Weglaufen? Mich hastig umdrehen? Nach hinten kicken? Um Hilfe rufen? Nichts von alledem scheint mir ratsam. Denn die kleine Bewegung, die nötig wäre, um mein Leben ein für alle Mal auszulöschen, ist viel schneller vollzogen, als jeder andere klägliche Versuch meinerseits, um aus der Situation zu entkommen. Warum sagt der denn nichts mehr? Der muss mir doch sagen, was er will! Ich spüre, wie meine Knie weich und meine Handflächen feucht werden. Und plötzlich meldet sich auch meine Blase…


„Hören Sie…“, versuche ich mein Glück erneut. „Halt`s Maul, verdammt!“ Diesmal zischte es an meinem anderen Ohr. Der Atem des Mannes – Oder war es doch eine Frau? – strömt übelriechend an meiner Nase vorbei. „Loslaufen!“ „Wo… Wohin?“ Ich stammle. Dabei liest man in Krimis doch immer, dass man Gewalttätern keine Angst zeigen soll. Oder sollte man ihnen gerade seine Angst zeigen? Ich kann mich nicht konzentrieren. Aber das ist jetzt wohl auch irgendwie egal. „Kepplerstraße!“ Auch diese Anweisung ist wie alles andere zuvor auch mehr ein Zischen als ein gesprochenes Wort. Ich seufze erleichtert auf – wenigstens weiß ich, wohin es geht, und muss nicht noch einmal dumm nachfragen.


Schweigend laufe ich los, noch immer zitternd. Mir wird klar, warum sich so viele Menschen in Ausnahmesituationen in die Hose pinkeln – meine Blase ist aktuell nach der Pistole in meinem Rücken mein dringendstes Problem. Aber noch einmal etwas fragen – und dann noch nach einer Pinkelpause – wollte ich unter keinen Umständen. Die Person hinter mir atmet ruhig und gleichmäßig; sie spricht kein Wort und so marschieren wir beinahe im Einklang dicht hintereinander her. Doch in mir drin sieht es anders aus.


Was ist jetzt eigentlich schlimmer? Das gnadenlos klingende Zischen oder die Tatsache, dass nun seit Minuten gar nichts gesprochen wird? Ich weiß es nicht – will eigentlich auch nicht darüber nachdenken, würde wie nach jeder Nachtschicht lieber in meinem Bus sitzen, nach Hause fahren, ins Bett gehen. Halt, Zähne putzen nicht vergessen! Ich muss grinsen. An welch komische Dinge man anscheinend in Ausnahmesituationen denkt. „Hast Du Deine Zähne geputzt? Und hast Du Dir ein Taschentuch eingepackt?“ Ich höre die Stimme meiner Mutter. Vielleicht, weil ich mir wünsche, dass diese Person mit mir redet? Ich weiß es nicht. Ist aber auch egal. Wir schweigen.


Zu dumm, dass es mitten in der Nacht ist! Wieder grinse ich unweigerlich. Was soll es auch sonst sein? Tagsüber hätte mich wohl niemand an einer Bushaltestelle überfallen. Ist es das überhaupt? Ein Überfall? Bisher musste ich ja weder Geld noch andere Wertsachen aushändigen. Wenn ich nur wüsste, was das hier alles zu bedeuten hat. Da zucke ich zusammen. „Na, weißt Du schon, wo es hingeht?“ Das Zischen macht mir Angst! Ich will etwas sagen, doch es kommt kein Ton aus meiner Kehle. Ich räuspere mich. Das „Nein“, das fragend hätte klingen soll, bleibt halb in meinem Hals stecken. „Nicht? Dann denke gut nach. Ich werde Dich gleich noch einmal fragen, und wenn Du es dann auch nicht weißt…“

Das bedrohliche Schweigen wird mit einem starken Druck in meinem Rücken unterstrichen. Woher soll ich bitte wissen, was das soll? Ich war noch nie mit dem Gesetz in Konflikt gekommen, kenne niemand aus zweifelhaften Kreisen, arbeite, zahle Steuern, habe keine Schulden… „Links!“ Das Zischen reißt mich aus meinen Gedanken, ich zucke zusammen. Links? Verdammt – das ist ein Feldweg. Er führt schlichtweg in die Dunkelheit. Ich zögere, stolpere, falle fast hin, doch die Person hinter mir packt mich an meinem T-Shirt und reißt mich wieder hoch. „Hallo, hallo! Nicht schlapp machen!“ Mir ist plötzlich alles egal; obwohl es eine warme Sommernacht ist, fröstle ich. In einhundert Metern Entfernung beginnt der Wald… Aus meiner Angst wird Panik!


Doch das Ding in meinem Rücken drückt mich vorwärts. „Sagen Sie mir doch bitte einfach, was Sie von mir…“ Zischend und gleichzeitig warnend höre ich die Person hinter mir einatmen. Ich verstumme augenblicklich. Wir laufen in den Wald hinein, ich sehe immer weniger, wir haben keine Taschenlampe. Ich erschrecke fast zu Tode, als mir plötzlich ein Jutesack über den Kopf geworfen wird. Ich erkenne ihn sofort am Geruch und am typischen Kratzen. Den Gedanken an die kleinen Nikolaus-Beutel aus meiner Kindheit verdränge ich sofort wieder. „Und? Weißt Du nun, worum es geht?“ Das war es nun also. Ich, ein ganz normaler deutscher Mitbürger, werde entführt, weiß nicht warum und werde in ein paar Tagen wohl von Wildtieren angefressen hier im Wald gefunden…


Wir laufen und schweigen. Es ist bestimmt schon eine halbe Stunde vergangen. Ich muss pinkeln. Ich habe Angst… Plötzlich wird mir der Sack vom Kopf gerissen. Es ist hell. Ich blinzle. Einmal, zweimal, noch ein drittes Mal. Ich stehe auf einer Lichtung. Um mich herum strahlen große Scheinwerfer. Da stehen Menschen. Etwas Okkultes? Darf ich nun etwas sagen? Sagt jemand anderes vielleicht mal etwas? Scheiße, scheiße, was ist das hier? „Na, hat Dich der Heißhunger gepackt?“ Jetzt fällt der Groschen. Ungläubig starre ich mein Gegenüber an! Es ist kein Geringerer als Sebastian Fitzek! „Ich sehe schon, hier haben jemanden so richtig überrascht!“ Ich lache schallend los – oh ja, das hatten sie! Sebastien Fitzek hatte auf seiner Insta-Seite Freiwillige für die Aktion zu seinem neuen Buch „Heißhunger“ gesucht. Und wer hat sich vor zwölf Wochen angemeldet und war sich sicher, niemals hereingelegt werden zu können? ICH!


Anna M. Dittus

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