„Das kann doch nicht der verdammte Sinn meines Lebens sein“, dachte sie, während sie einen großen Schluck aus ihrer RedBull-Dose nahm. Eiskalt war das Getränk. Sie hatte es erst vor wenigen Minuten an der Tankstelle mitgenommen. Zum Glück war diese gerade noch geöffnet – fünf Minuten vor 22 Uhr war sie hineingewitscht, um eine Tankfüllung zu zahlen, ohne die sie nicht nach Hause gekommen wäre. Feierabend: 21:30 Uhr. Nun parkte sie hier – am Rand der einsamen Landstraße. Sie hatte die Fahrertür ihres Geländewagens geöffnet, die Beine auf dem Trittbrett abgestellt, die Ellenbogen auf die Knie und den Kopf auf die Hände gestützt. So starrte sie in die Finsternis und schaute dem Niesel beim Regnen zu.
Um viertel nach fünf war sie heute Morgen aufgestanden. Okay, zugegebenermaßen erst um fünf vor halb sechs. Sie hatte sich zweimal die Snooze-Taste gegönnt, um dann aber in Windeseile unter die Dusche zu springen, Haare zu föhnen, sich anzuziehen, Proviant für den Tag einzupacken und ins Auto zu steigen. Eigentlich hätte sie heute ja Homeoffice gehabt – sprich eine Stunde mehr Schlaf. Aber wen interessierte das schon.
In den nächsten Wochen wird das frühe Aufstehen anstatt zweimal pro Woche fünf Mal pro Woche stattfinden. Die Joggingrunde zum wach werden würde ausfallen. Aber was war das schon im Gegensatz zu viel zu früh geborenen Zwillingen und einem Kollegen, der seinen Vaterschaftsurlaub nicht wie geplant in einem dreiviertel Jahr antreten würde, sondern genau heute. Aber Kinder sind wichtig, sie sind unsere Zukunft. Und die Ehefrau war berechtigterweise mit den Frühchen überfordert. Eine wirkliche Einweisung zum aktuellen Stand seiner Aufgaben hatte nicht stattgefunden. Der zweite Kollege von uns dreien hatte seit gestern Urlaub. Aber wen interessierts.
Dank der Sommerferien war der Weg ins Büro in Rekordzeit zurückgelegt. Wenigstens etwas. Sich durch drei E-Mail-Postfächer kämpfen zu müssen, würde einiges an Zeit fressen, da zählte jede gewonnene Minute. Als wären ihre eigenen Aufgaben nicht schon genug, als machte sie nicht ohnehin jeden Tag Überstunden. Nach dem siebzehnten Telefonat des Tages legte sie um 11 Uhr den Hörer auf den Telefonapparat. Waren in den vergangenen Monaten eigentlich allesamt verrückt geworden? Bitte und danke schienen im Vokabular nicht mehr zu existieren. Machbare Zeitschienen gehören ebenfalls der Vergangenheit an. Von einem freundlichen Umgangston ganz zu schweigen. Sowas interessiert schon lange niemanden mehr.
Sie spürte die Halsschlagader pochen, als das Telefon zum nächsten Mal klingelte. Natürlich konnte der Herr am anderen Ende der Leitung nicht wissen, dass sie alleine im Büro saß. Selbstverständlich wollte er sich ausführlich mir ihr über sein aktuelles Problem unterhalten. Nach 15 Minuten hatte sie einfach auf Lautsprecher gedrückt, der Hörer neben sich gelegt und immer, wenn eine Pause entstand, ein „Ja“ oder ein „Hm“ gemurmelt und währenddessen Dokumente unterschrieben. Das hatte ihrem Gegenüber aber wohl ausgereicht. Nach 45 Minuten bedankte er sich freundlich und legte auf. In dieser Zeit waren vier lange E-Mails in ihrem Postfach aufgeploppt – selbstverständlich mit dem roten Ausrufezeichen für höchste Dringlichkeit. Sie schaute auf die Uhr – Zeit für die Mittagspause, aber die würde ausfallen müssen. Der Groll wuchs. Doch wen interessierte der schon.
Ein Blick auf den Kalender verriet ihr, dass in dieser Woche der September beginnen würde. Sie erschrak. Vier Tage Urlaub hatte sie in diesem Jahr bisher genommen. Ganze vier Tage. Und alle anderen? Sie posteten permanent Urlaubsbilder in den sozialen Netzwerken und bedankten sich nach ihren freien Tagen bei ihr für die exzellente Vertretung. Aber davon konnte sie sich auch nichts kaufen. Bei dem Gedanken an Meer und Strand oder Berge oder Seen traten ihr Tränen in die Augen. Wie gerne würde sie diesen ganzen Scheiß einfach liegenlassen, sich ihren Partner schnappen und einfach für drei Wochen kein Handy, keine WhatsApp-Nachrichten und keine E-Mails mehr sehen. Oder zwei Wochen. Eine würde vielleicht auch schon reichen. Da fiel ihr Blick wieder auf ihren PC, die 32 noch zu beantwortenden E-Mails, unzählige Blätter auf ihrem Schreibtisch und auf das außer ihr menschenleere Büro. Entschlossen nahm sie den Telefonhörer in die eine Hand und wählte mit der anderen die Durchwahl des Chefs. So konnte das nicht neun Monate lang gehen. Er muss sich möglichst schnell etwas einfallen lassen. Das ließ sie sich nicht gefallen! Doch er ging nicht hin. Was interessierte den das schon.
„Vielleicht auch besser so“, dachte sie. „Wenn wir jetzt jemanden einstellen, dann habe ich sicher auch die Ehre, denjenigen einzulernen. Und wann zur Hölle soll ich das denn noch machen?“ Sie war niemand, der sich vor Arbeit scheute. Waren es gute Projekte, nahm sie sich freiwillig lieber selbst noch einem an, bevor es sonst nicht betreut werden konnte. Ihr Terminkalender war immer voll, und so liebte sie das. Sie mochte ihren Beruf – eigentlich. Aber heute spürte sie ganz deutlich, was sich in den letzten Wochen schon bemerkbar gemacht hatte. Sie steckte in einem Teufelskreis: aufstehen, arbeiten, schlafen; fünfmal pro Woche und am Wochenende arbeitete sie entweder das ab, was unter der Woche liegengeblieben war oder arbeitete für die kommenden Tage vor. Aber hatte das wirklich mal jemanden interessiert?
Hatte ihr irgendjemand mal dafür gedankt? Dafür, dass sie nahezu immer telefonisch erreichbar war? Dafür, dass sie es für selbstverständlich und auch für ihre Pflicht hielt, Fragen der Kollegen stets zeitnah zu beantworten – auch wenn sie selbst schon Feierabend hatte? Dafür, dass sie einsprang, wenn es woanders klemmte? Dafür, dass sie in ihrer Freizeit nur noch müde war? Dafür, dass sie ihre Freunde vernachlässigte? Und ihren Partner sowieso? Nein, das hat in dieser beschissenen Arbeitswelt so gut wie noch niemanden interessiert. Und wenn, dann nur, um all das, was sie sich bei dieser Person von der Seele redete, dann als neuen Klatsch und Tratsch im Flur herumzuerzählen.
„Das kann doch nicht der Sinn meines Lebens sein“, wiederholte sie, diesmal flüsternd. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, leerte sich den letzten Rest RedBull in den Mund und überlegte, die Dose vor lauter Wut einfach in den Wald hineinzuwerfen. Sie besann sich eines Besseren – die Natur konnte ja auch nichts dafür. Erst, als sie die Scheinwerfer wieder anschaltete, merkte sie aufgrund des Schleiers vor ihren Augen, dass sie weinte; heiße, große Tränen vor Sehnsucht nach Ruhe, nach Zeit mit ihren Lieben, nach einem guten Buch im Liegestuhl am Strand, nach Regen in den Bergen.
Dann schloss sie die Tür ihres Geländewagens, startete diesen und fuhr über die einsame Landstraße nach Hause. Sie sollte nicht zu spät ins Bett gehen. Um viertel nach fünf klingelt schließlich der Wecker …
Anna M. Dittus
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