"Schlafen die zwei Rabauken endlich?“ Maria schaute vom Spülbecken auf, wo sie gerade das Geschirr vom Abendessen abspülte. „Ja, endlich“, seufze Ruth. „Anna wollte ganze drei Wichtelgeschichten hören, bis sie endlich Ruhe gegeben hat.“ Maria lächelte. „Am Ende noch dieselben, die ich ihr gestern vorgelesen habe!“ Da lachen sie beide. Das konnte gut sein, so viel wie die beiden Großmütter immer vorlesen durften, wenn sie in Stadtsteinach zu Besuch waren. Der kleine Hermann mit seinen vier Jahren war nicht ganz so scharf darauf, aber seine drei Jahre ältere Schwester konnte gar nicht genug bekommen. Und wenn sie schon einmal den Luxus genießen durfte, dass beide Omas zusammen zu Besuch waren, musste sie das ja auch schließlich ausnutzen.
„Das hättest Du aber auch in die Spülmaschine räumen können.“ Ruth schnappte sich ein Geschirrtuch, und begann die Teller und Gläser abzutrocknen, die Maria schon gespült hatte. „Ach was, die paar Stücke, das haben wir ja schnell geschafft“, zwinkerte Maria und schwang lachend den nassen Lappen in der Luft herum. Sie hatte gute Laune. Es war der 23. Dezember und heute hatte sie mit ihren beiden Enkelkindern und deren anderen Oma noch einmal gemeinsam Plätzchen gebacken und verziert, was gab es Schöneres? Und wenn sie nun das Geschirr „versorgt“ hatten, würde sie im Wohnzimmer ihre Turndecke ausbreiten und noch ein paar Übungen machen. Sie war schließlich erst Anfang 50 und fit wie ein Turnschuh. Ruth, die andere der beiden Omas, war schon Mitte 60, und mit körperlicher Ertüchtigung hatte sie eigentlich nicht so viel am Hut – aber vielleicht konnte sie sie ja heute mal zum Mitmachen überreden.
„So, das wäre geschafft“, seufzte Ruth, die sich nach dem gemütlichen Lesesessel und ihrem Kreuzworträtselheft sehnte. Der Tag war schließlich ganz schön anstrengend gewesen. Die beiden Kinder hatten sie schon auf Trab gehalten, ihre zwei Omas. Als sie sich gerade in den Sessel setzte und ihre Hausschuhe ausgezogen hatte, hob sie die Augenbrauen, als sie Maria mit ihrer Gymnastikdecke ins Wohnzimmer kommen sah. „Oh, machst Du noch ein paar Übungen?“ „Klaro“, antwortete Maria. „Machst Du mit?“ „Ich schau` Dir lieber zu“, zögerte Ruth. Sie zog Gehirnsport der körperlichen Ertüchtigung vor und schielte sehsüchtig nach ihrem Rätselheft. Maria lacht: „Schon okay, Du kannst gerne Deine Kreuzworträtsel machen.“ Sie begann dagegen ganz locker mit ein paar Kniebeugen, als das Telefon klingelte. „Dittus?“ Ruth meldete sich in fragendem Tonfall, eigentlich erwarteten sie keinen Anruf mehr. Die Eltern der Kinder waren im Theater und ihre Männer hatten heute schon angerufen; beide kamen morgen dann mit dem Auto nach Stadtsteinach, damit sie alle zusammen Weihnachten feiern konnten. „Hallo?“ Ruth lauschte angestrengt, doch mehr als ein tiefes, langsames Atmen konnte sich nicht hören. „Hallo?“ Sie fragte noch einmal, und schien schon leicht verunsichert. Maria brach ihre aktuelle Übung – gegenläufiges Armekreisen – ab und sah Ruth fragend an. Diese erwiderte den Blick und zuckte ratlos mit den Achseln. Gerade, als sie auflegen wollte, vernahm sie dann doch noch eine Stimme. „Hallo?“ Eine tiefe Männerstimmer hauchte fast ins Telefon und räusperte sich, bevor sie weitersprach. „Ist der Dr. Dittus auch zu sprechen?“ „Ah, da ist ja doch jemand am Telefon“, Ruth klang spürbar erleichtert. „Nein, mein Sohn ist nicht zuhause. Er ist mit seiner Frau im Weihnachtstheater, in der Stadthalle.“ Stille in der Leitung. „Hallo? Sind Sie noch da?“ Ruth dachte schon, ihr Gegenüber hätte vielleicht aufgelegt. Doch dann sprach der Mann weiter. „Oh nein, das ist aber gar nicht gut.“ Er klang enttäuscht, fast schon etwas ängstlich. „Worum geht es denn? Kann ich Ihnen vielleicht helfen?“ „Sind Sie auch Tierärztin?“ Der Mann schöpfte merklich Hoffnung. „Nein, Tierarzt ist nur mein Sohn, das tut mir leid.“ „Na dann…“ Der Mann schien irgendwie zu resignieren. „Darf ich Sie fragen, worum es geht?“ Ruth war nun doch neugierig geworden, und auch Maria drückte sich nun ganz nah an den Hörer. Zu dumm, dass noch niemand Telefone mit Lautsprecher erfunden hatte. „Es geht um meinen Hund, Basti. Er ist sehr krankt und der Dr. Dittus hat gemeint, er würde sofort kommen, wenn seine Anfälle wieder losgehen. Basti braucht dann nur eine Spritze und alles ist wieder gut. Bekommt er die nicht, kann es sein, dass mein Hund stirbt.“ Nun klang die Stimme beinahe tränenerstickt. Ruth und Maria tauschten Blicke aus. Maria schaute aus dem Wohnzimmerfenster in die Dunkelheit, verdrehte seufzend die Augen und hielt dann die Hand auf als Geste, dass Ruth ihr den Hörer geben sollte. „Hallo, hören Sie? Hier spricht die Schwiegermutter vom Dr. Dittus. Sagen Sie mir, wo Sie wohnen, dann fahre ich mit dem Fahrrad zur Stadthalle und gebe ihm Bescheid.“ „Das würden Sie wirklich machen?“ Die Stimme des Mannes hellte sich merklich auf. „Das wäre ja toll! Basti und ich wohnen in der Frankenwaldstraße. Sie sind ein Engel, Frau…“ Er stockte. „Sie heißen dann ja nicht auch Dittus, oder?“ „Nein“, Maria lachte. „Lehner, ich heiße Lehner. So, und nun fahre ich los. Halten Sie durch – oder besser gesagt: Basti soll durchhalten!“
„Na, da hast Du Dir ja etwas aufgehalst!“ Ruth steht neben Maria im Gang und reichte ihr die warmen Handschuhe. Insgeheim war sie froh, dass nicht sie auch noch einmal hinaus in die Kälte musste. „Hast Du Deine Mütze?“ „Ja, ich bin warm eingemummelt, kein Problem!“ Doch mittlerweile war Maria dann nicht mehr ganz so motiviert. Das Thermometer zeigte drei Grad unter null an, und es war stockdunkel, da dichte Wolken Mond und Sterne versteckten. Heute Nacht sollte es auch noch schneien. Aber jetzt hatte sie es dem armen Hundebesitzer ja schon versprochen – das musste sie nun auch halten. „Ich setze schon einmal den Teekessel auf,“ ermunterte sie Ruth, die zu erkennen glaubte, dass die so rührige Maria jetzt auch lieber zuhause geblieben wäre. Aber wenn sie sich auf etwas freuen konnte, ging es dann vielleicht doch schneller als gedacht. „Und die Plätzchen sind bis dahin sicher auch abgekühlt. Die Belohnung hast Du Dir dann redlich verdient. Fahr vorsichtig und vergiss nicht, Dein Licht anzuschalten.“
Auf dem Weg in die Garage fragte sich Maria, warum sie nicht doch irgendwann den Führerschein gemacht hatte. Dann hätte sie jetzt einen Wagen hier und könnte damit die vier Kilometer zur Stadthalle fahren. Aber nein, sie und Ruth waren mit dem Zug zu ihren Kindern gefahren. Und das einzige Auto, dass der Haushalt hergab, stand auf dem Parkplatz der Stadthalle. Naja, wenigstens hatte Margit, ihre Tochter, ein modernes Fahrrad mit Dynamo und Dreigangschaltung. Damit war sie sicher schnell an ihrem Ziel. Beherzt schwang sie sich in den bequemen, aber leider ziemlich kalten, Sattel und trat in die Pedale. „Wenigstens gibt es kein Glatteis und ob ich jetzt noch ein paar Kniebeugen gemacht hätte oder eine Runde radle, ist ja auch egal“, dachte Maria und atmete einen tiefen Zug der kalten Winterluft ein. Ein warmer Sommerabend wäre ihr aber dennoch um einiges lieber gewesen…
In der Zwischenzeit hatte Ruth wieder in ihrem Sessel Platz genommen, die Hausschuhe ausgezogen und widmete sich voller Konzentration ihrem Kreuzworträtsel. „Wichtigste deutsche Stadt mit vier Buchstaben – wie leicht ist das denn? B-O-N-N.“ Kästchen für Kästchen füllte sie mit ihrer sorgfältigen Schrift und den passenden Buchstaben. Gehirnjogging war eindeutig eher ihre Stärke, als durch die kalte Nacht zu radeln. Sie merke nicht, wie sie ganz leise mit sich selbst sprach. „Russischer Zar mit…“ Ruckartig blickte sie auf. War da ein Geräusch? Doch so angestrengt sie lauschte – sie hörte nichts, im Haus herrschte absolute Stille. Also wanderten ihre Gedanken wieder zu dem gesuchten russischen Zaren, anschließend an seltenen Gebirgsblumen und danach zu einer afrikanischen Wildkatzenart. Da hörte sie es wieder. Jetzt war sie sich ganz sicher – da war doch etwas. Sie legte Stift und Rätselheft zur Seite, schlüpfte in ihre Schuhe und trat in den Flur. Je angestrengter sie lauschte, desto mehr rauschte das Blut in ihren Ohren. Sie war sich sicher, dass sie etwas gehört hatte, doch… „Oma?“ Ruth zuckte zusammen, als sie das Flüstern vernahm. Aber gleich darauf atmete sie hörbar aus, es war nur Anna, die am oberen Ende der Treppe stand. „Oma, ich kann nicht schlafen. Liest Du mir noch etwas vor?“ Ruth schmunzelte. Sie konnte ihrer kleinen Anna einfach keinen Wunsch verwehren. Also stieg sie die Stufen hinauf, ging in das Kinderzimmer ihrer Enkelin, knipste deren Nachttischlampe an und griff zum großen, bunten Wichtelbuch. Zwei Geschichten später schlief ihre Enkelin wieder ganz friedlich und Ruth wollte zurück ins Wohnzimmer. Mitten auf der Treppe hielt sie plötzlich inne. Da war doch wieder dieses Geräusch. Doch diesmal kam es sicher nicht von oben – nein, es kam ganz klar aus dem Keller!
Maria spürte, wie ihre Finger trotz der warmen Handschuhe langsam zu Eiszapfen wurden. Sie radelte aber auch wie ein geölter Blitz. In Gedanken war sie immer bei dem armen Hund, der so sehnsüchtig auf Thomas und die rettende Spritze wartete. Das spornte sie zusätzlich an. Endlich kam die festlich beleuchtete Stadthalle in Sicht. Der große, beleuchtete Weihnachtsbaum davor sah wirklich pompös aus. Doch um diesen gebührend zu bewundern, bleib keine Zeit. Maria ließ das Damenrad ausrollen, stellte es in den Fahrradständer und schloss es ab. Außer ihr war niemand mit dem Fahrrad gekommen. „Kein Wunder“, murmelte sie, während sie ihre Hände zu Fäusten formte und warmen Atem hineinpustete. „Bei der Affenkälte ist Sport im Freien wirklich keine gute Idee!“ Sie klopfte an die Glastüre der Halle. Die Dame in der Garderobe las gerade in einem Buch, doch bei dem Geräusch blickte sie auf, lächelte und öffnete die Tür. „Kommen Sie schnell herein! Wollen Sie noch in die Vorstellung?“ Fragend schaute sie der frierenden Maria in die Augen. „Ja, also nein, also…“ Maria geriet ins Stocken. Die Garderobiere blickte daraufhin nur noch verwirrter drein. Da atmete Maria tief durch, fasste kurz die Geschichte mit dem kranken Hund zusammen und fragte die Dame, ob sie zufällig wüsste, wo in etwa der stadtbekannte Tierarzt, Dr. Thomas Dittus, im Publikum saß. Diese wusste es nicht, aber sie hatte eine Taschenlampe und innerhalb kürzester Zeit standen sie Thomas und seiner Frau Margit Maria gegenüber im Foyer. Margit sah sichtlich enttäuscht aus, da sie wusste, dass der gemeinsame Theaterabend mit ihrem Mann nun ein jähes Ende fand. Aber irgendwie war sie so etwas ja schon gewohnt. Sie kannte ihn schließlich schon ein paar Jahre. „Dann fahr Du mit dem Auto los, Deine Notfalltasche ist ja im Kofferraum. Dann kannst Du gleich direkt nach Rugendorf“, sagte sie, nachdem ihre Mutter von Basti erzählt und die Adresse, wo der Hund und sein Herrchen lebten, genannt hatte. „Und Mama und ich laufen gemeinsam nach Hause.“ Thomas seufzte. Manchmal wäre er – wenn auch nur für ein paar Stunden – einfach gerne kein Tierarzt. Aber es half ja nichts. Er kannte Basti und wusste um seine heikle Situation. „Ihr könnt aber doch das Theaterstück zusammen weiterschauen“, schlug er vor. Aber Maria hatte ja die den kompletten Anfang verpasst und Margit fehlten jetzt auch schon ein paar Minuten aus der Mitte. Sie schüttelten beide den Kopf, ließen sich Margits Mantel von der Garderobendame aushändigen und sahen, als sie durch die Glastüre ins Freie traten, nur noch Thomas` Rücklichter in der Dunkelheit verschwinden.
Indes war es Ruth richtig mulmig zumute. Zwar war das Geräusch aus dem Keller seit ein paar Minuten verstummt (das war auch wirklich seltsam gewesen, eine Mischung aus einem Kratzen und einem Klopfen). Aber schließlich war sie ganz allein zuhause – einmal abgesehen von den Kindern. Und auf die beiden sollte sie ja auch aufpassen. Da konnte sie eine derartige, nächtliche Störung nicht gebrauchen! Mittlerweile stand sie am Fenster ihres Gästezimmers. Sie wollte eigentlich nur ein Paar Wollsocken und ihre Strickjacke aus ihrem Koffer holen. Diese Aufregung ließ sie doch ziemlich frösteln. Doch bevor sie das Licht anschalten konnte, fiel ihr Blick durch die große Glasscheibe in den großen Garten, der das Haus ihres Sohnes umgab. Und dort tanzte ein Lichtkegel über den Rasen. Das konnte nicht sein. Schließlich war das Haus das letzte in einer Sackgasse, nach dem Garten kamen nur noch Wiesen und schließlich der Wald. Da streunte ganz sicher niemand um diese Uhrzeit bei diesen Temperaturen herum. Oder doch? Ihr Herz schlug nun noch schneller, als Ruth nahe an das Fenster herantrat. Die Scheibe beschlug durch ihren Atem und ihr stockte der Atem. Tatsächlich, da lief jemand. Eine große, schwarz gekleidete Gestalt kam über den Rasen auf das Haus zu. Und sie hatte etwas Schweres dabei – das erkannt sie an deren Gang. Der Mann oder die große Frau, das konnte sie nicht definieren, steuerte zielsicher auf die Außentüre zum Keller zu – dorthin, woher vorher diese komischen Geräusche gekommen waren.
Thomas gab zu diesem Zeitpunkt richtig Gas. Bei Basti, das wusste er, zählt jede einzelne Minute, wenn er einen seiner Anfälle hatte. Zum Glück war der Schneepflug schon gefahren und die Straßen frei und gut gesalzen. Er freute sich auf morgen, weiße Weihnachten mit seinen Eltern, seinen Schwiegereltern und natürlich den Kindern – das stimmte ihn, trotz des unterbrochenen Theaterstückes fröhlich. Laut „Last Christmas“ aus dem Radio mitsingend bog er schließlich in die Einfahrt von Bastis Besitzer, Herrn Eck. Dieser stand auch schon an der geöffneten Haustüre. Thomas stieg aus, lief schnell zum Kofferraum, griff nach seiner Notfalltasche und sprang zwei Stufen auf einmal hinauf zur Türe. Doch irgendwas schien nicht ganz in Ordnung zu sein. War Basti etwa… schon verstorben? War er zu spät? Herr Eck sah ganz betreten drein und senkte den Blick zu Boden, als Thomas vor ihm stand. „Es… es tut mir leid“, flüsterte er betreten. „Was tut Ihnen denn leid?“ Thomas verstand gar nichts. „Bin ich zu spät?“ „Ja, also nein, also eigentlich braucht Basti Sie gar nicht.“ Thomas sah ihn weiterhin fragend an. „Basti geht es gut, er hatte keinen Anfall.“ „Es tut mir leid, aber ich verstehe nicht, warum ich dann hier bin!“ Jetzt schien die gute Weihnachtslaune von Thomas doch einen leichten Riss zu bekommen…
„Puuuh, also langsam wird es wirklich recht frisch!“ Maria spürte die Kälte nun nicht nur in ihren Fingern, sondern auch in ihren Zehen. Es hatte zu schneien begonnen. Sie und ihre Tochter hatten schon einen Kilometer des Rückweges hinter sich, aber so spät am Abend zog sich dieser wirklich in die Läge. Noch dazu bei der Eiseskälte. „Warum laufen wir eigentlich?“ Margit grinste, noch viel mehr, als sie den fragenden Blick ihrer Mutter sah. „Wir haben doch ein Fahrrad. Willst Du radeln und sitzt du auf dem Gepäckträger?“ Jetzt verstand Maria und sie musste kichern. „Wenn ich wählen darf, nehme ich den Gepäckträger!“ Sie lachten beide, als sie versuchten, so ausbalanciert wie möglich das Fahrrad in Schwung zu bringen. Zuerst ging es auch einmal verdächtig rasant in Richtung Straßengraben, aber dann lief es prima. Margit begann zu pfeifen und Maria stimmte singend mit ein. „Lasst uns froh-oh u-hund munter sein, und uns re-hecht vo-hon Herzen freu`n…“ Schön schief, aber lustig gelaunt radelten sie so die Allee entlang.
„Und dieser Mann hat Sie vor meiner Praxis abgefangen und Sie dazu gezwungen, heute Abend bei uns zuhause anzurufen? Er hat sie damit erpresst, für Basti Giftköder auszulegen, wenn Sie es nicht tun?“ Thomas fasste alles, was er in den letzten Minuten von Herrn Eck gehört hatte, noch einmal zusammen. Dieser nickte verlegen. „Ich habe mich auch gefragt, warum ich das machen soll. Vielleicht…“, er stockte. „Vielleicht was?“ Thomas wusste noch immer nicht, was er von dieser seltsamen Situation halten solle. „Ich weiß ja nicht, ob es zu weit hergeholt ist, aber vielleicht will Sie ja jemand ausrauben? Bei Ihnen einbrechen oder so. Ich glaube, er wusste auch nichts davon, dass Sie und Ihre Frau gar nicht zuhause waren. Zumindest hat er mir im Vorfeld nichts davon gesagt, dass ich nicht mit Ihnen, sondern mit Ihrer Mutter telefonieren werde.“ „Meine Mutter – ich muss sofort nach Hause!“ „Es tut mir wirklich sehr leid!“ Diese Entschuldigung hörte Thomas schon nicht mehr; er war schon wieder im Auto, wendete und gab Gas. Wer weiß, was da zuhause los war. Aber seine Mutter hatte gegen einen gestandenen Einbrecher wohl keine Chance…
Das, was die Gestalt mit sich herumgetragen hatte, war wohl so etwas wie ein großer, schwerer Hammer. Denn er machte sich damit gerade an der Kellertüre zu schaffen. Ruth stand wie erstarrt im Erdgeschoss. Was sollte sie denn gegen jemanden ausrichten, der sich wild entschlossen mit einem Vorschlaghammer Zugang in ein Haus verschaffte? Die Türe hatte wohl allen anderen Werkzeugen, die zuvor zum Einsatz gekommen waren, standgehalten – aber diesem Teil war sie nicht gewachsen. Ruth, die mittlerweile an die oberste Stufe der Kellertreppe geschlichen war, spürte nicht nur ihre Knie zittern, sondern auch, wie ganz plötzlich ein kalter Luftzug nach oben wehte. Die Türe unten war eindeutig offen und der Einbrecher machte sich in den Praxisräumen ihres Sohnes zu schaffen. Ruth wusste, dass dort eine Kasse zu finden war und natürlich auch verschreibungspflichtige Medikamente – eine verlockende Beute für jemanden, der damit etwas anzufangen wusste. Doch plötzlich stand sie wieder wie versteinert, siedend heiß befiel sie ein gar grausiger Gedanke: „Was sollt ich nur tun, wenn der Einbrecher auch noch hier oben nach Beute sucht? Was stellt der wohl mit einer Oma wie mir an, wenn er mich entdeckt?“ Sie hörte, wie er den Behandlungsraum verließ und durch den Flur in Richtung Treppe lief, um davor aber in die Apotheke abzubiegen. Das war ihre Chance – sie sah sich verzweifelt nach einen für sie geeigneten Versteck um. Doch die Räume in dem Haus waren offen geschnitten und einen ausreichend großen Schrank gab es auch nicht. Nach oben zu den Schlafzimmern der Kinder zu schleichen, kam gar nicht in Frage. Bevor der Einbrecher da hinaufkam, musste sie handeln. Sie atmete tief durch und lief entschlossen in Richtung Küche.
Thomas, Margit und Maria bogen gleichzeitig in die Einfahrt ein. Thomas parkte gerade vor der Garage ein, als die beiden Damen lachend und scherzend vom Fahrrad sprangen. Doch die gute Laune schwand sofort, als sie Thomas` ernstes Gesicht entdeckten. In kurzen Sätzen berichtete er ihnen, was er bei Herrn Eck erfahren hatte und als er gerade dabei war zu erwähnen, dass er sich nun große Sorgen um die Kinder und seine Mutter machte, verstummte er mitten im Satz, sein Blick war wie eingefroren. Margit und Maria wussten nicht, warum er stockte und drehten sich um, um zu sehen, was Thomas anstarrte. Er war die Kellertüre; sie war zertrümmert und hing ganz windschief in den Angeln. „Was sollen wir denn jetzt machen?“ Maria flüsterte ganz aufgeregt. Nun zitterte sie nicht mehr vor Kälte, sondern vor lauter Aufregung. So richtig wusste das niemand, denn schließlich brach ja nicht jeden Tag jemand in eines ihrer Häuser ein. Auch Thomas war verunsichert, doch er versuchte, souverän zu wirken. „Wir teilen uns auf. Ich gehe hier durch die Kellertüre und ihr lauft vorne zur Haustüre. Versucht, irgendwie zum Telefon zu kommen und wählt die 110. Wir brauchen in jedem Fall die Polizei. Und dann schaut nach meiner Mutter und den Kindern!“ Margit war schon zuvor das Herz ein bisschen in die Hose gerutscht, als sie an Anna und Hermann dachte. Sie waren ja noch so klein und konnten sich gegen einen Einbrecher sicher nicht wehren. Doch jetzt musste sie tapfer sein. Mit klopfendem Herzen ging jeden in die ihm zugeteilten Eingang. Aus dem Haus drang kein Geräusch.
Thomas war mittlerweile in seinem Behandlungsraum angekommen. Außer ihm war hier niemand – ihm fiel sofort die aufgebrochene Kassenschublade auf, aber sonst war alles wie immer. Was für eine blöde Situation. Das konnte jetzt wirklich gefährlich ausgehen. Hoffentlich hatte der Einbrecher seine Mutter und die Kinder nicht gefunden – oder, noch schlimmer, nicht mitgenommen… Er schlich in Richtung Treppe, blieb an deren Fuße stehen und lauschte. Nichts zu hören. Stufe für Stufe – die fünfte ließ er aus, die knarzte – schritt er nach oben. Endlich war er im Erdgeschoss angekommen. Aus dem Wohnzimmer fiel Licht in den Flur, ansonsten war nichts zu sehen, er vernahm auch kein Geräusch. Also weiter in Richtung Wohnzimmer; völlig geräuschlos gab er der Türe einen kleinen Schubs, blickte hinein – und traute seinen Augen nicht…
„Wenn wir gleich drin sind“, flüsterte Margit, „gehe ich zum Telefon und du schaust, ob du Ruth oder die Kinder irgendwo findest.“ Sie hatten so eben noch an der Türe gelauscht, aber nichts Verdächtiges hören können. Besser gesagt hatten sie gar nichts gehört. Alles war mucksmäuschenstill. Maria nickte. „Hoffentlich ist dieser Krimi bald vorbei, dass ich nichts für schwache Oma-Nerven“, dachte sie. Margit hatte inzwischen geräuschlos die Haustüre aufgesperrt und diese geöffnet. Nacheinander betraten Mutter und Tochter den Flur. Niemand war zu sehen. Sie bogen um`s Eck und standen vor der Tür zum Wohnzimmer. Licht fiel von dort aus auf den Flur und im Türrahmen stand Thomas. Auf Zehenspitzen schlichen Maria und Margit näher, standen nun direkt hinter ihm. Margit überlegte gerade, wie sie ihn aufmerksam machen konnte, ohne ihn zu erschrecken, als sich dieser ohnehin umdrehte. Margit und Maria mussten zweimal hinsehen – er grinste. Ohne zu flüstern sagte er: „Schaut mal!“ Dabei öffnete er die Wohnzimmertüre komplett. Sie sahen, wie Ruth in ihrem Sessel saß. In der Hand hielt sie ein Nudelholz. Und am Boden lag ein gefesselter Mann, der dunkle Kleider trug. Aus weit geöffneten Augen sah er abwechselnd zu allen vieren. Er hatte eine kleine Platzwunde an der Stirn. Neben ihm lagen Münzen und Geldscheine sowie Tablettenpäckchen und Medizinflaschen verstreut. „Er wollte wohl auch schauen, ob es hier oben auch noch etwas Wertvolles für ihn zu finde gibt. Aber da hat er die Rechnung leider ohne mich und mein Nudelholz gemacht.“ Ruth schmunzelte. Die anderen mussten ja nicht wissen, dass sie sich ziemlich gefürchtet hatte, als sie neben dem Treppengeländer stand, und dem Eindringling dabei zusah, wie er Stufe um Stufe näherkam. Oben angekommen, entdeckte er sie gleich, drehte sich auf sie zu, doch bevor er es sich versah, machte er Bekanntschaft mit dem Nudelholz. Margit, Thomas und Maria schauten verdutzt von dem Mann zu Ruth und wieder zurück. Schließlich begann Maria zu glucksen. Sie kicherte und irgendwann prustete es nur so aus ihr heraus. Auch Margit und Thomas stimmten in ihr Lachen ein. Das hätten sie Ruth wohl alle nicht zugetraut. „Ach“, Ruth versuchte, sich nochmals Gehör zu verschaffen. „Die Polizei habe ich schon angerufen. Die müsste gleich da sein! Was schaut ihr denn so ungläubig?“ Maria hatte sich als erste wieder gefangen. „Ruth, dieser Abend steht ganz klar unter dem Zeichen von Oma-Power – und das einen Tag vor Weihnachten...“ „Guten Abend zusammen!“ Erschrocken zuckte Maria mitten im Satz zusammen und klammerte sich im Reflex an ihren Schwiegersohn. Alle drehte sie sich um, hinter ihnen stand ein Polizist. „Bitte entschuldigen Sie, aber die Haustüre stand offen…“ Er stockte und Maria und Ruth seufzten gleichzeitig: „Oh heilige Nacht!“ So viel Aufregung war dann vielleicht doch etwas zu viel für sie…
Anna M. Dittus
Richtig spannend und gut geschrieben. Aber wie gut, dass es heute Handys gibt und niemand mehr in einer kalten Winternacht mit dem Fahrrad unterwegs sein muss
super spannend und rührend zugleich! ... so schön liebe Anna <3 #OmaPower