Eine kleine Nero-Geschichte ...
- Anna M. Dittus

- 11. Nov.
- 4 Min. Lesezeit

„Hey warum weinst du denn?" Lea hatte die Knie ganz eng an ihren herangezogen und ihre Arme darum geschlungen. So saß sie, den Kopf auf Armen und Beinen abgelegt, nach unten blickend und hatte die Augen fest zugepresst. Große, heiße Tränen rannen in Strömen über ihre roten Bäckchen. Ihre langen, weißblonden Haare hingen in allen Richtungen unten. So konnte sie niemanden sehen und jemand anderes konnte auch kaum erkennen, wo an diesem kleinen; zusammengekauerten Menschlein vorne oder hinten war. Was aber jeder sehr gut wahrnehmen konnte war, dass das Mädchen von ihren Schluchzern nur so geschüttelt wurde.
„Hey?" Die warme, tiefe Stimme versuchte es noch einmal. Und dann spürte Lea auch ein sanftes Stupsen an ihrem kleinen, mageren Rücken."
Was ist?" Ihre Stimme klang gedämpft zwischen ihren Unterschenkeln hindurch hervor. Sie klang belegt vom vielen Weinen.“Warum weinst du denn s0 sehr?" Die tiefe, ruhige Stimme drang nun ganz leise, aber ganz nah an ihr linkes Ohr. Der warme Atem des zugehörigen Mundes kitzelte sie und verwehte ihre Haare ganz leicht. Da musste Lea kurz kichern; was aber gleich wieder in herzzerreißendes Schluchzen überging. „Ich habe mich verlaufen“, weinte sie in ihren Schoss. „Wir haben Verstecken gespielt, die anderen Kinder und ich. Und ich hatte mich so gut hier zwischen den großen Wurzeln versteckt. Keiner hat mich gefunden. Als es dann langsam dunkel und kühl geworden ist, bin ich rausgekommen. Aber die anderen sind weg. Und ich weiß nicht, wo ich bin und wie ich nach Hause kommen soll.“ Zwischen diesen Sätzen schluchzte Lea immer wieder tief auf; einmal blieb ihr auch beinahe die Luft weg.
„Weißt Du denn schon, wo du wohnst?" „Na klar weiß ich das. Ich wohne bei meiner Mama und meinem Papa.“Sie hörte der tiefen Stimme an, dass der Mund, zu dem diese gehörte, wohl schmunzelte. „Nein“, sagte die Stimme, und wieder kitzelte es an Leas Ohr. „Ich meine, in welcher Stadt du wohnst weißt du das?" Doch Lea schüttelte erneut den Kopf; so dass die blonden; langen Haare nur so flogen. "Nein, ich bin doch erst vier Jahre alt.“
"Was, vier Jahre bist Du schon alt? Na, dann bist Du aber schon ganz schön groß! Ich kann das gar nicht richtig erkennen; wenn du da so zusammengekauert auf dem Waldboden sitzt. Komm, steh mal auf.“Da hob Lea den Kopf und staunte nicht schlecht.
„Du bist ja ...”, sie stockte und schluckte die restlichen Tränen einfach hinunter. „Du bist ja ein Pferd!” „Ja klar”, das kleine, schwarz-weiß gescheckte Pferd lachte laut auf. „Was dachtest du denn?” Lea rappelte sich auf, klopfte sich ein paar Tannennadeln von der Hose und zuckte die Schultern. „Ich dachte, du bist ein Mensch wie ich. Warum kannst du denn sprechen?” „Warum kannst du denn sprechen?” Darauf wusste Lea keine Antwort. Stattdessen sah sie, wie das Pferd vor ihr in die Knie ging.
„Komm“, sagte es mit seiner so schön klingenden Stimme. „Setz dich auf meinen Rücken, ich bringe dich nach Hause.”
Das ließ Lea sich nicht zweimal sagen. Sie kletterte auf den schwarz-weißen Rücken und hielt sich in der Mähne fest, als das Pferd sich wieder aufrappelte. Es lief erst langsam los, aber als es merkte, dass das Mädchen sicher auf ihm saß, trabte es schneller und schließlich galoppierten die beiden über die Wiesen, so dass Lea nur so juchzte. Sie konnte nicht einschätzen, wie lange der wilde Ritt dauerte, aber in der Tat standen sie irgendwann vor dem Haus ihrer Eltern. Hoch erfreut sprach das kleine, blonde Mädchen von seinem neuen Freund herunter, hüpfte ein paar Stufen bis zur Haustüre hinaus und klingelte.
Als diese sich öffnete, stand eine ebenso blonde, junge Frau im Türrahmen; hinter ihr tauchte ein großer, schwarzhaariger Mann auf. „Lea?” Sie sahen ihre Tochter fragend an. „Wo kommst du denn so plötzlich her? Es haben sich alle schon wahnsinnige Sorgen um dich gemacht.” Lea warf sich in die Arme ihrer Eltern, und da sprudelte es nur so aus ihr heraus: „Wir haben Verstecken gespielt, und dann habe ich mich verlaufen, und alle anderen Kinder waren auf einmal weg. Da musste ich weinen, aber dann kam auf einmal das sprechende Pferd, ich durfte mich auf seinen Rücken setzen, und es hat mich nach Hause zu euch zurückgebracht.” Da sahen Mama und Papa ihrer Lea fest in die Augen. „Welches sprechende Pferd?” Lea drehte sich um und wollte „Na, das da!” rufen. Doch hinter ihr stand niemand mehr in dem kleinen Hof unterhalb der Treppe.
Sie stockte. Wo war das Pferd geblieben? Da lang einzig ein dünnes Buch mit blauer Schleife im Kies. Sie lief die Stufen hinunter, hob es auf und brachte es zu ihren Eltern. Auf dem Cover erkannte sie das schwarz-weiße Pferd, auf dessen Rücken sie gerade eben noch über Felder und Wiesen galoppiert war.
„Neros Abenteuer“, las Mama vor. Sie klappte das Buch auf. Auf der ersten Seite stand mit ungelenken Buchstaben geschrieben:
„Liebe Lea, als Erinnerung an unseren Ritt schenke ich Dir mein Buch. Pass in Zukunft immer gut auf Dich auf. Dein Nero“



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