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  • AutorenbildDie Textgestaltende

Du gehst durch die Stadt und siehst einen Eiswagen an der Straße stehen…

Aktualisiert: 29. Dez. 2020


„Was macht der denn da, um diese Jahreszeit?“ Sie schüttelt verdutzt den Kopf, als sie den mit bunten Eistüten beklebten Kleinbus entdeckt. Sie duckt ihr Gesicht tiefer in ihren überlangen Schal und zieht die modische Bommelmütze tiefer ins Gesicht. Es war aber auch kalt geworden in den letzten Tagen. „Das sollte verboten werden, dass die jetzt noch Eis verkaufen. Das macht schon im Sommer jede Bikinifigur zunichte. Und jetzt im Advent sind die Leute ja schon von den Plätzchen fett.“ Mit einem verächtlichen Blick in die leere Fahrerkabine wollte sie schon an dem Eiswagen vorbeilaufen, als sie meint, einen Schatten in dessen Seitenspiegel wahrgenommen zu haben.


Aber dem war wohl nicht so… Weiterhin kopfschüttelnd stakst sie mit ihren dürren Beinen weiter. Sie hat kein Problem mit ihrem Gewicht. Sie isst einfach so gut wie gar nichts. Süßigkeiten sind sowieso nur etwas für willensschwache Menschen. Oh, wie sie diese verachtet! Sie selbst kann getrost mit einer kleinen Mahlzeit pro Tag auskommen. Sie ist ja auch perfekt! Ein Anflug von Ekel überkommt sie, wenn sie ihre Angestellten in der Mittagspause mit einer vor Fett triefenden Pizza erwischt – oder mit einem vor lauter Knoblauchsoße tropfenden Döner. Dazu trinken sie Cola und essen im Anschluss noch einen Schokoriegel, oder gar zwei. „Einfach widerwärtig!“ Aber nicht nur die Essgewohnheiten ihrer Mitarbeiterinnen lässt sie erschaudern; alles in allem sind diese in ihren Augen nur bemitleidenswerte Gestalten. Nervtötend. Agressionserregend. Schwach.


Ruckartig dreht sie sich um. Waren da nicht Schritte hinter ihr? Doch sie sieht nichts außer den Schein der in die Jahre gekommenen Straßenlaterne und ihren Atem, der weiße Wolken in die kalte Abendluft zaubert. „Ich weiß schon, warum ich mich sonst immer fahren lasse! Das ist ja scheußlich, hier durch die Finsternis latschen zu müssen!“ Selbst die Stimme ihrer Gedanken klingt verbittert. Warum hatte sie nicht eine ihrer Angestellten so lange angebrüllt, bis diese schließlich klein beigegeben und sie trotz Umweg nach Hause gefahren hätte? Und warum hatten die bescheuerten Polizisten nicht mit sich reden lassen, sondern ihr einfach den Führerschein abgenommen? Wegen lächerlichen 20 Stundenkilometern zu schnell… Ja, die hatte sie auch ordentlich angebrüllt und unverschämter Weise noch eine Anzeige wegen Beamtenbeleidigung kassiert. „Verdammte Sch…e!“ Während sie vor sich hin flucht, kickte sie mit ihrem hochhackigen Winterschuh wütend an eine herumliegende, leere Cola-Dose.


Aber wenn nur eine einzige ihrer verfluchten Mitarbeiterinnen so perfekt wäre wie sie selbst, dann hätte sie… Bei diesem Gedanken muss sie allerdings selbst lachen. Nein, sie selbst würde auch niemals eine von diesen Versagerinnen irgendwo hinfahren. Aber sie ist ja schließlich die Chefin. Und diese durchschnittlichen, so bemitleidenswert wenig am Erfolg orientierten Kreaturen sind ja schließlich dazu da, um jemandem wie ihr jeden Wunsch von den Augen abzulesen. Sie denkt sich merklich in Rage und merkt dabei, wie sie jede einzelne von ihnen einfach hasst. So sehr, dass die Tatsache, sie morgens einfach schon beim ersten Blick anschreien zu müssen, nur allzu verständlich ist. Auch mit ihnen telefonieren zu müssen, ist eine wahre Qual für sie. Die verstehen sie einfach nicht. Auch wenn sie ihnen ihre Gedanken entgegenbrüllt, tun sie einfach so, als verstehen sie sie nicht. Dabei sind ihre Gedanken doch einfach genial. Jeder muss sie verstehen können. Morgen muss sie dringend noch einmal mit ihnen reden. Sie hatte es heute schon angekündigt. So kann es absolut nicht weitergehen. Sonst schmeißt sie einfach eine nach dem anderen ´raus. Da muss es doch noch bessere Mitarbeiterinnen auf dem freien Markt geben. Mitarbeiterinnen, die genau so perfekt waren, wie sie selbst!


Die Scheinwerfer eines heranfahrenden Wagens werfen ihren langen Schatten auf die reifbedeckte Straße. Mit ihren wirr in alle Richtung stehenden Locken und der dürren Figur erinnert sie dieser an Cruella De Vil, die hysterische Psychopatin aus dem Disney-Film 101 Dalmatiner. Sie grinste ihr diabolisches Grinsen, als sie darüber nachdenkt. Doch dann erstarrt sie: „Warum fährt hier ein Auto so schnell? Hier sind doch nur 30 erlaubt…“ Sie dreht sich um und erstarrt. Es ist der Eiswagen, der genau auf sie zusteuert. Geblendet von den hellen Scheinwerfern hält sie sich die Hand über die Augen, macht einige unsichere Schritte rückwärts, als der Wagen knapp vor ihr mit quietschenden Reifen stoppt. Im gleichen Moment öffnet sich die Schiebetüre hinter dem Fahrer, es springen zwei schwarzgekleidete und maskierte Gestalten heraus und ein erstickter Schrei ist das Letzte, was man von ihr zu hören bekommt.


24 Stunden später


„Na, Schatz, wie war der Abend mit Deinen Kolleginnen gestern? Und wie war es heute bei der Arbeit?“ „ Beides war echt super! Britta, Heike und ich hatten heute zur Abwechslung auch mal richtig viel Spaß.“ Ungläubig schaut er von seinem Teller hoch. „Spaß? Bei der Arbeit? Dann scheint ihr drei ja gestern einen richtig netten Abend gehabt zu haben.“ Sie lächelte sanft. „Ooohja...“

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