„Seid Ihr mal froh, dass Ihr auf Eurem gemütlichen Sofa sitzt, und nicht wie ich jetzt ´raus in dieses Mistwetter müsst!“ Maike schickte die Voicemail mit diesen letzten Worten in den Gruppenchat, den sie zusammen mit ihren beiden besten Freundinnen „zumüllte“, wie sie es selbst immer gerne nannte. Während sie hastig den Reißverschluss ihres Parkas bis zum Anschlag hinaufzog, bei ihrer Tollpatschigkeit fast noch die Haut ihres Kinns einklemmte, sich ihren Schal umwickelte und die Kapuze tief ins Gesicht zog, dachte Maike an Steffi und Miri. Die beiden hatten um 21.30 Uhr schon längst Feierabend und saßen – damit hatten sie sie zumindest gerade im Gruppenchat geneckt – mit einem Feierabend-Sekt bei Steffi auf dem gemütlichen XXL-Sofa...
Maike schloss die Tür der gläsernen Pforte von außen, knipste ihre Taschenlampe an und stapfte missmutig los in den Regen. „I`ve been looking for freedom!“ Diese melodische Refrain-Zeile des 90-er-Jahre-Hits von David Hasselhoff kündigte ihr den Eingang einer neuen Nachricht im Mädels-Gruppenchat an. Während sie im Laufen das Handy aus der Tasche zog und das hämische, mit einem die Zunge herausstreckenden Smiley versehene „Augen auf bei der Berufswahl!“ von Steffi las, kam von Miri gleich der Emoji mit den zwei Sektgläsern hinterher, gefolgt von der Frage: „Heute zur Abwechslung mal Mütze auf UND Taschenlampe dabei?“ Grinsend steckte Maike das Handy in die Tasche. Sie wurde von ihren Freundinnen gerne mal wegen ihrer Vergesslichkeit aufgezogen – mit Recht, wie sie leider immer wieder zugeben musste. Auf dem ersten Wegstück gab es nur wenig Beleuchtung, hier musste sie mit Ihrer Taschenlampe konzentriert den Weg ableuchten, um nicht zu stolpern und am Ende in einer Pfütze zu landen. Sie arbeitete als Fachkraft für Schutz und Sicherheit bei einer großen Spedition. Wenn sie das einem Fremden erzählte, erntete die 32-Jährige nicht selten ein abschätziges Lächeln. Mit ihrer Körpergröße von knapp 1,65 m und einem „Kampfgewicht“ von knapp 54 kg, ihrem hübschen Gesicht, das immer ihre beinahe unverschämt gute Laune widerspiegelte und den braunen, langen Haaren war sie keine Frau, die man von selbst dem Bereich „Security“ zuordnete. Aber wer sich einmal mit ihr anlegte, wurde schnell eines Besseren belehrt und versuchte es meist kein zweites Mal. Aber eigentlich verliefen ihre Schichten friedlich, sie arbeitete ja schließlich nicht als Türsteherin in einer Diskothek. Am liebsten ließ sich Maike in die Nachtschichten einteilen, da sie so nach drei Nächten am Stück immer drei Tage komplett frei und somit viel Zeit für ihr Pferd hatte. Zu ihrer Arbeit an der Pforte gehörten auch regelmäßige Rundgänge über das Firmengelände, die an nasskalten, stockdunklen Winterabenden wie dem heutigen aber schon sehr ungemütlich waren. So, das erste Wegstück war geschafft, die Außenbeleuchtung der Firmengebäude spendeten jetzt erst einmal genügend Licht, so dass Maike die Taschenlampe wegstecken und das Handy wieder zur Hand nehmen konnte. Sie drückte auf den Knopf zur Sprachaufnahme in ironischem Tonfall: „Hey ihr Pappnasen, ich weiß überhaupt nicht, wovon ihr gerade redet! Selbstverständlich habe ich meine Kapuze auf, die Taschenlampe im Anschlag und sogar an den Schal habe ich gedacht.“ Während sie darüber nachdachte, wie oft sie ihre Rundgänge schon frierend und nur mit dem schwachen Licht der Handy-Taschenlampe zurücklegen musste, weil sie einfach so unstrukturiert und vergesslich war, schickte sie noch eine Sprachnachricht hinterher: „Aber ich hoffe, ihr erinnert mich morgen wieder an mein Equipment – sicher ist sicher!“ Schnell noch den Smiley in Form des Affenkopfes mit den zugehaltenen Augen nachgeschickt und dann wieder der Tausch von Handy zur Taschenlampe. Jetzt kam das dunkelste Stück des Weges. Außer dem Regen auf dem nassen Asphalt war nichts zu hören. Sie mochte es eigentlich, allein zu sein, keinen Smalltalk mit Kollegen halten zu müssen, wie es tagsüber bei den Rundgängen häufig vorkam. Sie ging gerne ihren Gedanken nach.
„I´ve been looking for freedom!“ Maike bleib abrupt stehen. Hatte noch jemand denselben, enervierenden Signalton wie sie? Das konnte ja fast nicht sein. Mit den Worten „Den nehm` ich für unseren Mädels-Chat, so ´nen beknackten Nachrichtenton hat sonst keiner. Da erkenne ich immer gleich, dass ihr es seid!“ hatte sie dem Chat damals, als sie diesen gegründet hatten, jenen Sound zugeteilt und mochte ihn mittlerweile sogar. Obwohl die Liedzeile aus einer anderen Richtung gekommen war als aus ihrer Jackentasche, zog sie ihr Handy heraus. Keine neue Nachricht. War ja auch klar. Kopfschüttelnd entsperrte sie ihr Smartphone, rief den Gruppenchat mit Steffi und Miri auf und drückte den Button für die Sprachaufnahme: „Haltet Euch fest, ich habe schon Halluzinationen. Lauf` ich hier gerade durch das dunkelste Eck meiner Strecke und denke über alles und nichts nach, höre ich tatsächlich unseren Chat-Klingelton aus der Ferne! Typisch ich…“ Sie lachte schon fast über sich selbst, als sie die Nachricht abschickte und konnte sich die hämischen Kommentare, die nun von den Freundinnen kommen würden, mehr als nur bildlich vorstellen. Es ging auch schon los.
Miri: „Hä?“
Steffi: „Du sollst doch während der Arbeit nicht trinken *ZWINKERSMILEY*“
Miri: „Zuviel Nachtschicht und zu wenig Schlaf ist einfach nicht gut für Dich *GESPENSTERSMILEY*“.
Innerlich mit den Augen über sich selbst und ihre wirren Gedanken rollend, bog sie mit Taschenlampe und Handy in den Händen um die nächste dunkle Ecke und stutzte. Da lag etwas im Rinnstein. Es leuchtete, das sah sie genau. Und dabei handelte es sich um keine Spiegelung in einer Pfütze. Das war ein pinker, handlicher Gegenstand. „Das bilde ich mir jetzt aber nicht ein“, dachte sie und ging in die Knie. „Und das ist jetzt auch wirklich ziemlich unheimlich…“
„Auf Maike!“ Miri und Steffi stießen 300km weit entfernt mit zwei vollen Sektgläsern an. Sie liebten diese Abende, die sie trotz der großen Entfernung irgendwie doch alle drei gemeinsam verbrachten – obgleich es nur über das Smartphone war. In Maikes Nachtschichten konnten die drei schon mal an die 100 Text- und Sprachnachrichten sowie kurze Videos oder witzige Fotos durch den Gruppenchat jagen – Lachtränen waren dabei garantiert. Während die 35-jährige Miri Maike aus ihrer Heimat, besser gesagt aus dem Reitstall, in dem beide ihre Pferde untergestellt hatten, kannte, lernte sie Steffi erst nach ihrem Umzug im neuen Job kennen. Die Arbeitskolleginnen verstanden sich auf Anhieb so perfekt, dass sie seit Steffis 30. Geburtstag vor einigen Monaten in einer gemeinsamen WG lebten. Und Maike und Steffi bleib nichts Anderes übrig, als sich ebenfalls anzufreunden – was aber schnell funktionierte. Seither waren die drei zumindest über den Gruppenchat unzertrennlich und eigentlich permanent miteinander verbunden. Und dieser machte sich soeben wieder bemerkbar – Sprachnachricht von Maike:
Maike: „Mädels, Ihr glaubt nicht, was ich gerade gefunden habe. Mein altes Handy…“
An dieser Stelle tauschten Miri und Steffi vielsagende Blicke aus, denn wenn Maike etwas zur Perfektion beherrschte, dann war es, Handys zu verlegen, zu verlieren oder auch gerne mal in den Matsch oder ins Wasser fallen zu lassen. Auf eines war sogar ihr Pferd einmal draufgetreten – kurz um, Maike brauchte mindestens zweimal im Jahr ein neues Gerät.
Maike: „…also das vorletzte, das pinke altmodische Ding, wisst ihr noch?“
Ihre Stimme klang nun ungewohnt hektisch und auch, für die immer fröhliche Maike, etwas zu verwirrt und aufgebracht.
Maike: „Das liegt hier! Auf dem Firmengelände! Im Rinnstein! Krass…“
Das letzte Wort sagte sie mehr zu sich selbst und ihre Verwunderung war nicht zu überhören. Nach einer kurzen Pause sprach sie nachdenklich weiter.
Maike: „Wahrscheinlich war es auch das, was sich mit unserem Nachrichten-Ton bemerkbar gemacht hat… Es ist nämlich angeschaltet und auf laut gestellt. Ich habe es mir mal genauer angesehen. Vor einer Minute ist eine Nachricht eingegangen. Auf dem Display stand – oh Mann, ich traue mich gar nicht, es laut vorzulesen – Hallo Maike, schön, Dich wieder zu haben. Was mache ich denn jetzt??? Also, ich habe es jetzt mal entsperrt, weil – haltet Euch fest – mein Code funktioniert noch. Jaaaaa ich weiß, dass mein Geburtstag nicht die anspruchsvollste Zahlenkombination darstellt. Aber jetzt kommt das Unheimlichste: Da sind lauter Bilder von mir drauf. Also, ich meine, klar sind da Bilder von mir drauf, ist ja auch mein Handy. Aber nicht nur Bilder, die ich damals gemacht habe, auch aktuelle Bilder!“
Maikes Stimme wurde immer lauter, sie redete immer schneller, wurde regelrecht panisch. Auch Miri und Steffi sahen sich nun mit großen Augen an. Ungläubig hörten sie über Miris Smartphone weiter zu, während Steffi, die vorsichtigste der drei Freundinnen, schon tippte:
Steffi: „Maike, was ist da los? Das ist ja mega gruselig… vielleicht steckst Du das Handy erst einmal ein und gehst zurück in die Pforte? *Smiley mit aufgerissenen Augen*“.
Währenddessen lief die Sprachnachricht weiter, Maikes Stimme überschlug sich.
Maike: „Ohne Witz, haltet Euch fest: Das letzte Foto zeigt mich, wie ich vorher mit meinem Energy-Drink in der Hand vom Auto in die Pforte gelaufen bin. Unglaublich!“
Es war kurz still, obwohl die Voice-Message noch nicht zu Ende war. Maike dachte wohl nach.
Maike: „Wisst Ihr was? Ich schreib jetzt einfach mal Wer bist Du.“
Wieder Stille. Die andren beiden sahen sich ratlos an, während sie wie gebannt darauf warteten, dass Maike weitersprach.
Maike: „Oh mein Gott! Da sind gefühlt hunderte von Bildern, die ich nicht selbst gemacht habe. Zu der Zeit, als die entstanden sind, hatte ich das Teil hier längst verloren – dachte ich zumindest. Das hat mir wohl jemand gestohlen. Die Fotos sehen aus, als hätte mich ein Privatdetektiv aus einem Auto heraus beschattet. Ich auf dem Weg zur Arbeit, ich auf dem Parkplatz vor meinem Haus, ich mit meinem Pferd, ich beim ´Rausstellen der Mülltonne. Den hat wohl alles interessiert. Die Perspektive ist auch immer so komisch. Irgendwie sind immer meine Brüste im Zentrum des Bildes. Oder nein, wartet mal, eigentlich ist es eher mein Bauch. Wer bitte fotografiert denn 150 Mal meinen Bauch?!?“
Stille.
Maike: „Ohaaaaa!“
Jetzt klang Maike wirklich entsetzt. Tonlos sprach sie weiter:
Maike: „Da sind auch Bilder von… I´ve been looking for freedom.“
Maikes Spezial-Klingelton und ein dumpfes Geräusch waren das letzte, was zu hören war. Die Sprachnachricht war zu Ende.
Steffi starrte auf ihr Smartphone. Seit knapp zwei Minuten war Maike nicht mehr online gewesen. Genau die Zeit, die sie gebraucht hatten, um ihre Nachricht abzuhören.
Steffi: „Maike? Lebst Du noch?“
Sie tippte hastig eine Nachricht – schief grinsend und doch besorgt. „Meinst Du, das war ein Scherz?“ Sie schaute zu Miri hinüber, die nachdenklich ihr Sektglas in den Händen drehte und auf die aufsteigenden Kohlensäure-Bläschen starrte. Auch sie war sich unsicher. „Also, Maike ist ja schon für jeden Spaß zu haben, aber das klang jetzt wirklich komisch.“ „Sie ist auch immer noch nicht online. Also wenn das ein Spaß war, zieht sie es echt durch.“ „Weißt Du was?“ Miri entsperrte ihr Smartphone. „Ich muss das wissen, ich rufe sie jetzt an. Da kann ja sonst etwas passiert sein!“ Sie wählte Maike in den Kontakten, drückte auf das Symbol mit dem grünen Hörer, hielt sich das Handy ans Ohr, um es gleich darauf enttäuscht wieder sinken zu lassen. Mailbox.
Ein stechender Schmerz, der einmal quer durch ihren Kopf schoss, ließ Maike die Augen aufreißen – zumindest dachte sie, dass sich ihre Lider automatisch und ruckartig geöffnet hatten. Doch dem war wohl nicht so. Alles war schwarz um sie herum. Sie schmeckte Blut. Sie konnte nicht durch die Nase atmen. Und ihr Kopf tat so höllisch weh. Damit verlor sie erneut das Bewusstsein.
15 Minuten waren seit dem Eingang von Maikes wirklich seltsamer Sprachnachricht nun vergangen. Dazu kamen fünf Textnachrichten, in denen Steffi und Miri zunächst mit witzigen Smileys versehen fragten, ob sie mal ein Lebenszeichen schicken könne. Am Ende standen da nur noch drei Fragezeichen in einer Textblase. Sieben Mal hatten sie nun – von beiden Handys – versucht, Maike anzurufen. Aber mehr als die Mailbox hatten sie nicht erreicht. Miri, die besonnenere von beiden, googelte gerade nach der Telefonnummer der Spedition und hoffte, dass die zentrale Durchwahl nachts für die LKW-Fahrer in die Pforte umgeleitet wurde. Während sie sich von Website zu Website weiterklickte, versuchte sie sich zusammen mit Steffi daran zu erinnern, ob Maike jemals etwas davon erzählt hatte, dass nachts bei ihr in der Pforte ein Festnetz-Apparat klingelte – ohne Erfolg. Aber sie wussten, dass Maike pro Nacht immer einen Kollegen oder eine Kollegin zur Seite gestellt bekam. Doch von diesen kannten sie meist nur Spitz- oder Vornamen. Und wer heute an Maikes Seite war, hatten sie bisher noch gar nicht besprochen. Endlich, Miri hatte die Telefonnummer auf der Speditions-Homepage gefunden, klickte sie an und hörte nach zweimaligem Klingeln nur den Anrufbeantworter, der ihr mitteilte, dass sie außerhalb der Geschäftszeiten anrief. „Vielleicht ist einfach nur ihr Akku leer?“ Steffi versuchte, Möglichkeiten dafür zu überlegen, warum Maike sich nicht mehr meldete. Mittlerweile war es 22 Uhr, der Sekt, der in Steffis Wohnzimmer in den fast leeren Gläsern stand, hatte die Großteil der Kohlensäure verloren und die beiden Freundinnen waren immer noch genauso ratlos wie zuvor. Das mit dem leeren Akku war auch so ein Phänomen an Maike – nie hatte sie, wenn es darauf ankam, ein Ladekabel bei sich. Aber in ihrer Pforte lagen inzwischen mindestens drei Stück, das wusste Miri. Eine Nachtschicht ohne Handy ging schließlich gar nicht. Daran konnte es also nicht liegen, denn mittlerweile sollte sie nach ihrem Rundgang wieder am Schreibtisch angekommen sein. Aktuell hatte die Sorge bei Miri und Steffi überhandgenommen. Sie waren sich beide sicher, dass Maike es gar nicht solange geschafft hätte, sich bei einem Scherz von sich aus nicht zu melden. Sie begannen, in Gedanken durchzugehen, ob es möglich war, dass Maike einem Verbrechen zum Opfer gefallen war. Aber wer sollte dahinterstecken? Maike machte für ihre 32 Jahre zwar viel Blödsinn und war im Kopf sicher am jugendlichsten von allen dreien geblieben. Das machte sie aber keinesfalls naiv. Dumm war sie auch nicht. Und auch, wenn sie schon oft in Situationen geschlittert war, über die die anderen beiden verwundert die Köpfe geschüttelt haben, ist sie noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Mit ihrer direkten Art stieß sie manche Menschen zwar vor den Kopf, aber sie hatte keine Feinde. Zumindest hatte sie Miri und Steffi noch nie etwas Derartiges erzählt. Die beiden gingen nun zusammen sämtliche, ihnen zumindest aus Erzählung bekannte Kollegen und Kolleginnen von Maike durch, aber konnten sich an keine zweifelhaften Geschichten über diese erinnern. Als sie zu Maikes Familie übergingen, warf Miri grübelnd Stefan, den Namen von Maikes älteren Bruder, in den Raum. Er war in der Familie wohl das, was man ein schwarzes Schaf nannte. Maike sprach nie viel über ihn, außer, dass er „nur wenn es gar nicht anders geht mal zu Familienfeiern auftauchte“, ansonsten den Kontakt Maike und ihren Eltern mied. Warum dem so war, wussten Steffi und Miri nicht. Vielleicht hatte er in der Vergangenheit ein paar krumme Dinger gedreht und wurde deshalb ausgegrenzt? „Also, ich weiß nicht sicher, ob er nicht doch mal im Gefängnis saß“, überlegte Miri gerade. „Ich habe ihn in all den Jahren auch nie gesehen. Ihre Eltern kenne ich ja, die sind super nett. Es ist auch schwer, mit Maike über ihn zu reden. Sie gibt mir zwar immer eine kurze Antwort, wechselt aber dann das Thema.“ „Vielleicht, weil Maikes Vater vor seiner Rente als Polizist gearbeitet hat? Möglicherweise gab es da etwas, worüber lieber nicht geredet werden soll? Vielleicht hat der Vater ihn mal wegen etwas gedeckt“ Während Steffi über ihre vielen in den Raum geworfenen „Vielleichts“ sinnierte, schnappte sich Miri wieder ihr Handy. „Vergiss es“, unterbrach Steffi sich selbst. „Sie war nicht online.“ „Nein, das wollte ich gar nicht nachschauen. Weißt Du, was wir jetzt machen?“ Steffi schüttelte den Kopf. Alles, was aus der Ferne gerade möglich war, hatten sie doch schon versucht. Nur die Polizei hatten sie noch nicht angerufen, aber damit, so hatten beide vor zehn Minuten beschlossen, wollten sie noch etwas warten. Wieviel „etwas“ genau war, hatten sie zwar (noch) nicht definiert, aber schließlich steckte man nicht jeden Tag in einer solchen Situation. „Ich rufe jetzt meinen Vater an!“ Miri drückte zuerst auf den grünen Hörer und dann auf den Lautsprecher, dann konnte Steffi gleich zuhören und sie musste ihr danach nicht alles erzählen. „Lehner.“ Die sonore Stimme von Miris Vater, Dr. Thomas Lehner, dem Tierarzt in der Gemeinde, in der Miri aufgewachsen war und wo Maike noch immer wohnte, verströmte immer eine gewisse Energie, aber dennoch auch Ruhe und irgendwie auch Verantwortung. Miri hatte sich schon oft gedacht, dass alle aufgeregten Besitzer kranker Tiere sich bestimmt gleich viel besser fühlten, sobald sie ihn nur in der Telefonleitung hatten. Auch ihr fiel jetzt irgendwie ein Stein vom Herzen, als wäre sie ihre Verantwortung Maike gegenüber gerade losgeworden. Dabei hatte sie noch nicht einmal begonnen zu erzählen. Aber damit fing sie jetzt an. „Ja, und jetzt dachte ich, Du könntest, wenn Du mit Emil Deine letzte Runde drehst, vielleicht kurz bei Maikes Wohnung vorbeilaufen? Vielleicht ist sie früher nach Hause gegangen, weil ihr nicht gut war. Dann wäre zumindest ihr Auto auf dem Parkplatz.“ Ganz logisch erschien ihr diese Schlussfolgerung selbst nicht. Sie zuckte hilflos mit den Achseln, als sie Steffis zweifelnden Blick auffing. Aber etwas Besseres wollte ihr einfach nicht einfallen. Und irgendetwas mussten sie ja tun.
Wieder dachte Maike, dass sie die Augen öffnete, aber wieder sah sie nichts als Dunkelheit um sich herum. Sie öffnete den Mund und erinnerte sich sofort wieder an den blutigen Geschmack auf der Zunge. Was war denn mit ihrer Nase los? Und warum tat der Kopf so höllisch weh? Nur langsam kamen die Erinnerungen zurück. Die Nachtschicht, der Rundgang, ihr altes Handy, das sie im Rinnstein gefunden hatte, die seltsamen Nachrichten. „Hallo Maike, schön, Dich wieder zu haben.“ „Wer bist Du?“ Das hatte sie darauf geantwortet. Sie erinnerte sich noch an die ganzen Fotos von sich selbst an den unterschiedlichsten Orten, die sie auf ihrem alten Smartphone entdeckt hatte. Und alle zeigten irgendwie ihren Bauch. Gerade, als sie sich neben dem Rinnstein kniend wunderte, warum unter all den aktuellen Schnappschüssen von ihr auch Fotos von jenem Abend waren, als sie Hals über Kopf aus dem Haus geflohen war, kam die Antwort auf ihre Nachricht: „DREH` DICH MAL UM!“ Ohne zu überlegen hatte sie es getan und schon schlug ihr eine Faust mitten ins Gesicht. Unerbittlich. Sie war sofort ohnmächtig geworden. Trotz des mittlerweile eingetrockneten Blutes konnte Maike – zumindest in Maßen – durch die Nase atmen. Desinfektionsmittel – es roch eindeutig nach Arztpraxis. Klar, dachte sie. Ihr Schichtkollege Robert Pleban hatte sie sicher draußen gefunden und einen Notarzt verständigt. Jetzt nahm sie auch das Klappern von Instrumenten war. Vielleicht war sie auch gleich ins Krankenhaus gebracht worden. Aber warum sah sie nichts? Hatte der Schlag ins Gesicht ihre Augen geschädigt? „Hallo?“ Unsicher rief sie in den Raum, der ihr rein vom Gefühl sehr groß vorkam. Groß und kalt. Obwohl das Klappern nicht aufhörte, antwortete ihr niemand. Seltsam. Das verkrustete Blut juckte an ihrer Nase. Sie wollte es wegkratzen, merkte dann aber, dass ihre Hände fixiert waren. Wie konnte das sein? Hatte man sie an ein Bett gefesselt? Während sie sich weiter auf ihren Körper besann, merkte sie, dass sie gar nicht lag. Sie saß, und das auf einem ziemlich unbequemen, harten Stuhl. Die Lehne ging gerade bis zur Mitte ihres Rückens. Sie konnte den schmerzenden Kopf nicht anlehnen und ausruhen. Auf einmal wurde ihr bewusst, wie stark ihr ganzer Körper weh tat. Die Füße waren so komisch angewinkelt. Natürlich, die waren an die Stuhlbeine gebunden. Sie versuchte zu blinzeln und bemerkte einen Wiederstand an ihren Wimpern. Jetzt wurde es ihr schlagartig klar: Sie hatte nichts an den Augen, sie trug eine Augenbinde! Hier war etwas ganz und gar nicht so, wie es sein sollte. „Hallo?“ Sie rief jetzt lauter als vorher. Aber es kam auch bei diesem Versuch keine Antwort. Im Gegenteil, Schritte entfernten sich, eine schwere Tür schlug zu und es klang, als würde von außen ein großer, alter Schlüssel einmal im Schloss herumgedreht. Während sie all das wahrnahm, war ihr, als stiege ihr ganz kurz ein vertrauter Geruch in die Nase. Doch so schnell, wie er kam, war er auch schon wieder weg, und Maike konnte ihn spontan Nichts zuordnen. Ihr Kopf tat so weh, und sie war müde, unendlich müde.
„In Maikes Wohnung brennt kein Licht und ihr Auto kann ich im näheren Umkreis auch nicht entdecken.“ Dr. Lehner kam sich in diesem Moment selbst ein bisschen vor wie ein Detektiv aus seinen Jugendbüchern, die er so früher gerne gelesen hatte. Mit Emil, seinem Bracken-Rüden, schlich er zwar nicht wirklich heimlich um das Haus, in dem die Freundin seiner Tochter wohnte. Aber nachts um 22.30 Uhr im Nieselregen in dieser Sackgasse durch ein dunkles Fenster zu spähen, machte das Ganze dennoch in gewisser Weise spannend. Steffi und Miri saßen sich ratlos gegenüber und wussten auch nicht, was sie Lehner über den Lautsprecher noch sagen sollten. „Emil und ich laufen jetzt über den Kirchweg nach Hause, die nächste Stunde bin ich also sicherlich noch wach. Falls ihr von Maike so lange etwas hört, könnt ihr Euch ja noch melden.“ Als Miri aufgelegt hatte, nahm sie den Block wieder zur Hand, auf dem sie auf Zuruf von Steffi mittlerweile doch einige Namen von Menschen gesammelt hatte, die ihnen im Zusammenhang mit Maike eingefallen waren. Doch keiner erschien ihr wichtig oder eigenartig genug, dass er Maike – in welcher Form auch immer – etwas antun würde. Sie alle waren ja auch „ganz normale Menschen“, die in einer „ganz normalen Kleinstadt“ lebten. Dort passierte nie irgendetwas richtig Spannendes, und schon gar nichts Kriminelles. Steffi hatte sich mittlerweile Facebook zur Brust genommen und war Maikes Freundesliste durchgegangen: Eine Martina, eine Aishe und einen Robert hatte sie aus Erzählungen von Maike deren Kollegium zuordnen können. Ihnen hatte sie allen dreien dieselbe Nachricht via Messenger zugeschickt: „Hallo, Du bist doch der Kollege / die Kollegin von Maike. Hast Du heute Abend mit ihr Schicht oder weißt Du zufällig, wer mit Ihr arbeitet? Leider kann ich Maike nicht erreichen, es wäre aber dringend. Vielen Dank für eine kurze Rückmeldung, LG Steffi.“ Bisher hatte keiner von ihnen die Nachricht gelesen. Aber wer sah um diese Uhrzeit auch permanent auf sein Handy? Um die Wartezeit zu überbrücken, scrollte Steffi wahllos durch ihre Facebook-Timeline und plötzlich kam ihr ein Gedanke. „Habt Ihr für euren Landkreis auch so eine Blaulicht-Gruppe auf Facebook?“ „Was ist denn eine Blaulicht-Gruppe?“ Miri schaute desinteressiert von ihren Notizen hoch. „Na so eine Gruppe, in der immer alles Erwähnenswerte im Umland gepostet wird. Unfälle, Unwetter, Kurioses…“ Während sie das erklärte, flogen ihre Finger schon über das Smartphone. „Ha, da habe ich es ja – tatsächlich habt ihr so etwas. Warte mal, ich trete mal bei.“ Miri hörte schon nicht mehr wirklich zu. Wenn es darum ging, in den sozialen Netzwerken etwas herauszufinden, war Steffi ihr um Längen voraus. Sollte sie ruhig suchen. „Und?“ fragte Miri jetzt nun doch interessiert, da sie schon seit einigen Minuten nichts mehr von Steffi gehört hatte. „Leider nichts. Eure Allee wird zum Teil abgeholzt für die neue Umgehungsstraße, eure Bürgermeisterin lässt das Rathaus renovieren, eine entlaufene Katze und an der ZAFF findet eine Fortbildung statt.“ Sie schaute enttäuscht auf und fragte, um das betretene Schweigen irgendwie zu brechen: „Was ist denn die ZAFF?“ „Die Zentrale Anstalt für Fleischforsch… – he warte mal, was findet da statt?“ Aus dem gelangweilten Tonfall wurde schlagartig Interesse. Steffi las irritiert vor: „Gepostet heute um 19.47 Uhr: Aktuell findet an der ZAFF, der Zentralen Anstalt für Fleischforschung, ein Kongress zu den neuen Fleischbeschau-Verordnungen für Europas Schlachthöfe statt. Die Teilnehmer haben den ersten Tag nach Vorträgen im Institutsgebäude in unserem Ein-Sterne-Restaurant bei themenbezogenen Gesprächen ausklingen lassen. Von links nach rechts blablabla.“ „Nein, nicht blablabla, wer ist da abgebildet?“ Miri hechtete zu Steffi ans andere Ende des Sofas. „Jetzt entspann` Dich mal, ich lese vor: Dr. Klaus Deckstein, Prof. Dr. Peter Beer, Dr. Ute Zweckelmann, Dr. Rudolf Hinterstetter, Prof. …“ Weiter kam Steffi nicht, Miri hatte ihr schwungvoll auf den Oberschenkel geschlagen! Während sie noch „Aua!“ schimpfte, kam von ihrer Freundin nur noch: „Das ist er!“
Sie musste wohl noch einmal weggenickt sein, stellte Maike fest, denn ihr Genick schmerzte noch viel mehr. Wahrscheinlich war ihr Kopf beim Schlafen in eine unbequeme, seitliche Haltung gerutscht. Auch der schlechte Geschmack in ihrem Mund war intensiver als zuvor. Sie versuchte zu schlucken. Ein Glas Wasser wäre jetzt toll. Warum auch immer spürte Maike, dass sie etwas fitter war als in der letzten Wachphase. Sie versuchte, sich auf dem grausigen Holzstuhl so gerade wie möglich hinzusetzen und testete dann, welches Körperteil sie in welchem Rahmen bewegen konnte. Wenn nur nicht dieses vertrocknete Blut in ihrem Gesicht so verdammt jucken würde. Sie versuchte, mit der Nase zur Schulter zu kommen, um diese an ihrem Pullover zu reiben. Es gelang, und nicht nur das: Dabei kam auch die Augenbinde ein klein wenig ins Rutschen. Maike musste trotz der Situation grinsen – wer auch immer sie hier gefesselt hatte, an dieser Stelle hatte er hier schon einmal versagt. Generell musste sie feststellen, dass ihr zwar alles komisch vorkam, richtig Angst verspürt sie aktuell aber nicht. Noch nicht? Vielleicht hatte sie einfach schon zu viele Krimis gelesen… Sie musste auch nicht lange mit dem Kopf an beiden Schultern reiben, bis die Stoffbinde schließlich hinten an ihrem Kopf entlang rutschte und auf den Boden fiel. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das schwache Licht, dessen Quelle, wie Maike schnell erkannte, eine kleine, alte Schreibtischlampe schräg hinter dem unbequemen Holzstuhl war. Außer ihr war kein Mensch in dem großen Raum. Sie schaute nach oben: Dachschräge, nicht gedämmte Holzdecke, zum Teil waren Dachziegel sichtbar – wer auch immer es war, er oder sie hatte sie auf einen Dachboden geschleppt. „Dicke Kinder sind schwerer zu kidnappen!“ An diesen Spruch musste Maike unweigerlich denken, als ihr bewusst wurde, dass sich beinahe jeder, der über ein geringes Maß an Muskelkraft verfügte, sie einfach über die Schulter werfen und über mehrere Stockwerke bis auf einen Dachboden tragen konnte. Sie ließ ihren Blick weiterschweifen. Vor langer Zeit hatte sich hier wohl ein Arzt ein kleines Büro eingerichtet. Neben dem Schreibtisch mit der brennenden Lampe standen Holzregale und Vitrinen mit alten Büchern, Instrumenten, Nierenschalten und Spritzen. In der Raummitte, nicht weit von ihrem Stuhl entfernt, erkannte Maike einen in die Jahre gekommenen OP-Tisch. All das erinnerte sie unweigerlich an eine Szene, die so auch in einem ihrer geliebten Kriminalromane beschrieben sein könnte. Ein Krampf in ihrer rechten Schulter ließ Maikes Konzentration schlagartig wieder auf ihren Körper zurückkehren. Sie blickte auf ihre Hände hinunter, die an der Stuhllehne gefesselt waren – mit Paketschnur. Und wieder musste Maike grinsen…
Dr. Thomas Lehner spülte sich gerade die Zahnpasta aus dem Mund, als sein Handy klingelte. Das Foto, das auf dem Display auftauchte, verriet ihm, dass es seine Tochter Miriam war. „Na, ist Eure Maike wieder aufgetaucht?“ „Papa?“ Lehner hörte Miri ganz aufgeregt ins Telefon rufen. „Papa, hast Du noch Kontakt zu Frau Dr. Zweckelmann?“ Lehner stutzte. Als Miri merkte, dass er nicht gleich reagierte, redete sie hastig weiter: „Nein, wir haben Maike nicht gefunden. Aber wir haben eine Ahnung, mit wem sie vielleicht zusammen unterwegs sein könnte – freiwillig oder unfreiwillig.“ „Und was hat Ute Zweckelmann damit zu tun?“ Thomas Lehner ging das jetzt doch alles etwas zu schnell. So musste Miri kurz zusammenfassen, was Steffis Facebook-Suche ergeben hatte und dass es sich bei Dr. Rudolf Hinterstetter um Maikes Ex-Freund handelte. Wenn sie über Dr. Zweckelmann die Handynummer von Hinterstetter bekommen könnten, wäre er ihr nächster Ansprechpartner und das Rätsel um Maikes Verschwinden vielleicht ganz schnell gelöst. „Miri, Du weißt aber schon, dass es jetzt 23 Uhr ist“, seufzte Lehner. Er kannte Frau Dr. Zweckelmann schon seit über 20 Jahren, die Tierärztin war mit 58 Jahren nur wenig jünger als Lehner selbst, hatte mittlerweile eine leitende Position in der ZAFF und war „alles andere als cool“, wie seine Tochter das wahrscheinlich ausdrücken würde. Seine Generation würden ihr eher weniger schmeichelhafte Worte wie „Mannsweib“ und „Haare auf den Zähnen“ zuordnen. Und Abweichungen von der Norm, sprich nächtliche Anrufe, waren nun wirklich nicht das, womit man sie bei Laune hielt – im Gegenteil. „Papa, bitte!“ Miri legte den ihrer Meinung nach schmeichelhaftesten Tonfall auf, den sie auf Lager hatte. „Ja, okay, einmal versuche ich es – aber, wenn sie da nicht hingeht, müsst ihr Euch etwas anderes einfallen lassen!“
Steffi grinste, als ihre Freundin das Handy weglegte. „Den hast Du aber ganz schon bezirzt!“ Miri musste auch lächeln. Sie war froh, dass sie so einen guten Draht zu ihren Eltern hatte und sie alle immer füreinander da waren. „Wer genau ist denn jetzt dieser Hinterstetter? Ist das der aus Österreich?“ Als Maike mit Rudolf zusammen war, hatten sie und Miri Steffi noch nicht gekannt. Und da sich die ganze Beziehung, genauer gesagt deren Ende, sowieso sehr verwirrend gestaltet hatte, fielen die Erzählungen für Steffi immer recht knapp aus. Miri atmete auch jetzt erst einmal tief ein, als müsse sie überlegen, wie sie am besten mit dieser Geschichte begann, ohne dass sie zu stark ausuferte. „Kurz zusammengefasst fanden wir Rudolf am Anfang super und zum Schluss nur noch schräg.“ Sie zuckte mit den Schultern und sprach mit wenig Motivation in der Stimme weiter: „Ich weiß auch nicht genau, wann es anfing, dass es so seltsam mit ihm wurde. Zuerst erschien alles wirklich perfekt. Rudolf ist drei Jahre älter als Maike und kommt wie gesagt aus Österreich und lebt dort mit seinen Eltern auf einem großen, abgelegenen aber wirklich schönen Bauernhof. Er hat sich beruflich auf Fleischbeschauen in Schlachthöfen spezialisiert und war schon früher immer wieder in der ZAFF. So haben sich die beiden auch kennen gelernt – er war mit seinen Kollegen abends in der Stadt etwas trinken und Maike und ich saßen am Nebentisch. Nach wenigen Monaten hat er dann beschlossen, für einige Monate am Stück an der ZAFF zu bleiben. Alles war super. Maike war endlich mal, naja, ich nenne es mal aufgeräumt“, Miri musste lachen. „Sie führte im Vergleich zu ihrem chaotischen Dasein sonst auf einmal ein geregelteres Leben und Rudolf fühlte sich, so machte es zumindest den Anschein, recht wohl in Deutschland.“ Mit einem Zwinkern fügte sie hinzu: „War ja auch nicht verwunderlich, bei dem Freundeskreis!“ Steffi stöhnte, sie wusste ja, wie es mit Miri und Maike im Doppelpack war und hatte schon fast Mitleid mit dem ihr unbekannten Rudolf. „Ja, und aus den Monaten, die er bleiben wollte, wurden zwei Jahre, bis er wieder auf den Hof zu seinen Eltern zurückkehrte. Trotz allem kam er oft zu Maike. Er war viel auf Deutschlands Schlachthöfen unterwegs und legte seine Routen eigentlich immer so, dass er mindestens auf dem Hin- oder auf dem Rückweg bei ihr vorbeischneite. Meistens kam er sogar beide Male. Maike besuchte ihn auch in Österreich, wenn die Zeit zwischen seinen Touren zu lang dauerte – was aber zum Ende hin eher selten vorkam.“ Miri zögerte, bevor sie nachdenklich weitererzählte. „Zu dieser Zeit begann Rudolf dann auch, so ich nenne es mal „anders“ zu werden.“ „Inwiefern anders?“ fragte Steffi, während Miri den Rest aus ihrem Glas trank und das Gesicht verzog, da der Sekt mittlerweile warm und fad schmeckte. „Zunächst sprach er davon, für Maikes Pferd einen Stall bei sich zu bauen, damit sie dann zu ihm auf den Hof ziehen konnte. Diese Vorstellung hatte Maike dann aber weniger behagt, ich glaube, sie dachte immer, dass er irgendwann nach Deutschland kommen würde. Sie versuchte das Ganze zunächst zaghaft abzuwenden. Sie argumentierte, dass Pferde ja Herdentiere wären und sie nur eines hätte. Das könne sie dann nicht ohne Gefährten dort einstellen. Prompt berichtete er einige Wochen später, dass er nun zwei Ponys gekauft hätte, die auf seinem Hof nun auf Maikes Pferd warten würden.“ „Ach was, der hat doch nicht einfach mir nichts, dir nichts zwei Ponys bei sich in den Kuhstall gestellt?“ Steffi unterbrach Miri halb belustigt. „Nicht in den Kuhstall, es wird noch komischer: Er hat einen separaten kleinen Pferdestall bauen lassen! Und der war sicher nicht billig, sag ich Dir! Die Bilder, die Maike mir davon gezeigt hatte, sahen schon wirklich sehr, sehr toll aus. Rudolf klammerte sich immer mehr an Maike und versuchte sie, über Monate hinweg mit allen Mitteln nach Österreich zu locken – bis sie den Schlussstrich zog.“ Steffi hob gespannt eine Augenbraue, denn Maike war jetzt nicht wirklich ein Mensch, der in heiklen Situationen die treffenden Worte fand. Jetzt war sie doch gespannt, wie das ausging. Doch sie wurde enttäuscht: „Was genau an diesem Abend passiert ist, weiß ich nicht. Maike sagte mir im Nachhinein nur, dass er damals überraschend vor ihrer Haustüre stand. Natürlich hat sie ihn hineingebeten und ein paar Stunden später hatte ich eine kurze Sprachnachricht auf dem Handy, in der sie völlig emotionslos mitteilte, dass das Paar Maike und Rudolf von nun an Geschichte wäre. Sie sei jetzt spazieren und sie hoffe, dass er, wenn sie zurückkommt, mit all seinem Kram aus ihrer Wohnung verschwunden wäre.“
Als Kinder hatten sie und ihr Bruder oft Banküberfall gespielt. Meist war Stefan der Räuber und sie die Geisel gewesen. In den Sommerferien hatten sie oft hinten im großen Garten ihrer Eltern ein verstecktes Lager gebaut und dort viele Tage draußen verbracht. Eines Abends, Maike saß als „Bank-Mitarbeiterin“ mit Paketschnur an einen Ast „gefesselt“ in ihrem Versteck, verkündete Stefan, er müsse kurz etwas aus dem Wohnhaus holen. Aus diesem „kurz“ wurde recht lang, zumindest kam es der damals neunjährigen Maike so vor. Da niemand auf ihr wiederholtes Rufen reagierte, begann sie, die Paketschnur „aufzukauen“. Die Mischung aus viel Speichel und den nagenden Kinderzähnen hatten der Schnur über kurz oder lang genug angetan, dass Maike ihre Hände mit einem Ruck befreien konnte. Und diese Taktik ging auch diesmal auf. Maike streckte die eingeschlafenen Arme aus, ließ die Handgelenke eine Weile kreisen und beugte und streckte die Finger. Als sie in diesen wieder ausreichend Leben verspürte, befassten sich ihre schlanken Finger mit den kleinen Knoten in der Schnur um ihre Füße und war schnell frei. Währenddessen überlegte sie fieberhaft, wer hinter dieser wirklich seltsamen Geschichte stecken könnte. Aber so sehr sie sich bemühte, ihr fiel keine plausible Erklärung für ihren Aufenthalt in diesem gruseligen Raum ein. Das war sicherlich kein Spaß und sie sollte schauen, dass sie zügig hier herauskam – bevor die Person, die sie hierhergebracht hatte, wiederkam. Für die Tür, die den Raum verschloss, hatte sie schnell eine Idee: Der Schlüssel steckte von außen in einem normalen Schlüsselloch, unter der alten Tür schien durch einen zentimeterhohen Spalt das Licht des Flures. Jetzt noch ein dünnes Instrument aus der Vitrine genommen und ein Stück Papier vom Schreibtisch halb unter der Türe durchgeschoben – Maike musste den Kopf schütteln. Das lernte man schon in jedem Jugend-Detektivbuch. Sie piekte mit dem seltsamen medizinischen Dingens aus dem Glasschrank (Maike hatte so etwas vorher noch nie gesehen) ins Schlüsselloch und schon ertönte draußen das Geräusch des herausfallenden Schlüssels. Vorsichtig das Papier in den Raum zurückziehen, mit dem Schlüssel die Tür aufsperren, diese öffnen und schon stand man… …ja wo stand man? Jetzt war es Maike doch unheimlich. Im Vergleich zu dem alten, nahezu verfallenen Dachraum war das Treppenhaus, das nun einen Meter nach der alten Türe begann, sehr modern. Außer der Tür zu „ihrem“ Zimmer gab es hier oben keine weitere. Also begann Maike in sehr hellem, kaltem Licht, die Treppe hinunter zu steigen. Außer ihrem Herzschlag vernahm sie kein Geräusch. Je weiter sie über die Treppen nach unten lief, desto intensiver wurde der Geruch des Desinfektionsmittels. Schlagartig fielen ihr eine Hand voll Horrorfilme ein, die in verlassenen Krankenhäusern oder Nervenheilanstalten spielten und das Unbehagen wuchs nur noch weiter. Sie beschloss, erst einmal ein paar Stockwerke nach unten zu überbrücken. Vielleicht kam sie dann zu einem Ausgang. Nachdem sie drei Etagen zurückgelegt hatte, fiel ihr Blick auf ein Hinweisschild an der Wand hängen, auf dem Zimmernummern und Namen des vierten Stocks, in dem sie sich befand, verzeichnet waren. Leider kam ihr niemand der namentlich erwähnten Personen bekannt vor. Was ihr aber bekannt vorkam und die Gemütslage nicht wirklich verbesserte, war die Bezeichnung des Raums, der auf dem Schild ganz unten stand: Sektionssaal. Die Gänsehaut, die über Maikes Körper kroch, ließ sich nicht aufhalten.
„Thomas, Du weißt aber schon, dass Dich das nicht nur ein Bier kostet!“ Das markante, tiefe Lachen von Dr. Ute Zweckelmann dröhnte schon beinahe durch den Geländewagen von Thomas Lehner. Dem war mittlerweile nicht mehr sehr wohl in seiner Haut. Zwar hatte er über eine gar nicht so übellaunige Ute Zweckelmann zunächst die Handynummer von diesem Rudolf Hinterstetter herausgefunden und sie auch an seine Tochter weitergegeben. Diese erreichte aber nur die Mailbox und auch in dem Hotel, in dem die Seminarteilnehmer laut Zweckelmann untergebracht waren, war der Österreicher nicht aufzufinden. Auf Steffis und Miris Drängen hatte Lehner ihnen die Telefonnummer seiner Kollegin gegeben. So hatten die Freundinnen über diese herausgefunden, dass Hinterstetter mit seinem Besucherchip auch ohne weiteres allein die ZAFF betreten konnte. Und tatsächlich: Ein Telefonat der Tierärztin mit dem Nachtportier des Institutes hatte ergeben, dass sich dieser um 22:37 Uhr Zutritt das Gebäude betreten hat. Jetzt gab es seitens Zweckelmann kein Halten mehr. Sie rief Lehner zurück und bedrängte ihn so lange, bis er sie abholte („Thomas, ich würde ja auch allein fahren, aber mit drei Bier intus sollte ich das vielleicht nicht tun!“) und mit ihr durch ein nun sehr dichtes Schneetreiben zur ZAFF fuhr. „Ja, das Bier schreibe ich dann meiner Tochter in Rechnung – und für mich dann auch gleich eines.“ Seufzend parkte er auf dem Chefparkplatz nahe dem Haupteingang („Thomas, park ruhig da, vor morgen früh um 10 Uhr kommt der Chef sowieso nicht, hahaha!“), löste den Sicherheitsgurt und stieg aus. Kalter Wind pfiff ihm um die Nase, weshalb er seine Mütze tiefer ins Gesicht zog und den Kragen seines Mantels aufklappte. Im Institut brannte nirgendwo Licht. „So eine Schnapsidee“, murmelte er kopfschüttelnd und folgte Dr. Ute Zweckelmann, die bei minus drei Grad – wie selbstverständlich – nur mit einem Pullover gekleidet durch den Schnee auf die Eingangstüre zu stapfte.
„Wo bin ich? Wo bin ich? Wo bin ich?“ Maikes Gedanken kreisten nur noch um diese eine Frage. Sie war nun komplett einer leichten Panik verfallen. Den eigentlichen Plan verwerfend, stieg sie nicht weiter die Treppen hinunter, sondern rannte fast durch den steril beleuchteten Gang mit dem PVC-Boden. Es kam ihr so vor, als flogen die Türen nur so an ihren Augenwinkeln vorbei, bis sie endlich am Ende des Ganges vor einer großen Doppeltüre stand. In großen aufgeklebten Lettern stand auf dem linken Flügel „SEKTIONS“ und auf dem rechten „SAAL“. Im Nachhinein konnte Maike nicht mehr sagen, warum um alles in der Welt sie dorthin gelaufen und die Türen geöffnet hatte, aber auf einmal stand sie in einem gekachelten Saal. Durch den Spalt in der Türe fiel der Lichtschein auf einen großen Metalltisch in der Mitte des Raumes. Sie erkannte das Loch in der Tischplatte, durch das Blut oder andere Körperflüssigkeiten abgeleitet werden können, spürte erneut die Gänsehaut und erschrak in der nächsten Sekunde fürchterlich, als die große, schwere Tür hinter ihr zufiel. „Scheiße!“ Das hatte sie laut gesagt und schlug sich aus Reflex sofort beide Hände vor den Mund. Raus hier! Maike drehte sich um, um die Tür wieder zu öffnen und sich weiter auf die Suche nach dem Ausgang zu machen, als sie vom Gang her Schritte hörte. Schritte und ein wirklich seltsam klingendes Keuchen. Beides kam, so hörte es sich zumindest an, direkt auf den Eingang zum Sektionssaal zu. Maike sah sich um und erkannte am anderen Ende des Raumes, auf der gegenüberliegenden Seite des Sektionstisches, eine kleine Tür. Ohne nachzudenken rannte sie los, stolperte über ihre eigenen Füße, schlitterte über die kalten Fliesen, rappelte sich auf, öffnete die Tür und war gerade in die rettende Dunkelheit geschlüpft, als die große Saaltür aufschwang. Wieder raste ihr Herz, sie versuchte, den Atem anzuhalten und hörte nur noch ein lautes Rauschen in den Ohren, das aus ihrem Körperinneren kam. Der Geschmack von Blut verriet ihr, dass die Wunde in ihrem Gesicht wieder aufgeplatzt war. „Drauf gesch…“, dachte Maike und versuchte krampfhaft, kein Geräusch zu machen. Gleichzeitig starrte sie wie gebannt auf die große, schlanke Gestalt, die durch den Saal… wankte. Ja, sie wankte. Oder sie zog ihr rechtes Bein zumindest seltsam hinter sich her. Und sie keuchte, als ob sie bei jedem Schritt Schmerzen verspüren würde. Maikes Augen waren vor lauter Anstrengung nur noch zwei Schlitze – und jetzt erkannte sie, dass die Gestalt ein Mann war. Nicht nur irgendein Mann, es war Rudolf Hinterstetter, ihr Ex-Freund. Das war alles zu viel für Maike, sie drehte sich um, entdeckte nicht weit von ihr entfernt noch eine Tür, über der schwach grün ein Treppenhaus-Signal leuchtete. Langsam, um unter keinen Umständen ein Geräusch zu verursachen, drehte sie sich um, lief zwei Schritte, tastete nach der Türklinke, drückte diese behutsam hinunter, schaffte es, lautlos hindurchzugleiten und diese von außen wieder zu verschließen. Kaum hatte sie die Klinke losgelassen, atmete sie erst einmal aus. Wo war sie hier nur hineingeraten? Und warum war Rudolf hier? Und warum war er verletzt? Sie konnte nichts richtig ordnen. Aber wenigstens wusste sie, warum ihr das Aftershave, dass sie in diesem Dachraum kurz gerochen hatte, bekannt vorgekommen war. Nach dem letzten gemeinsamen Abend damals hatte sie eigentlich gehofft, den Hinterstetter, wie sie ihn seit der Trennung nur noch nannte, nie wieder sehen zu müssen. Aber war er jetzt vielleicht ihre Rettung? Sie wusste es nicht und entschied, sich erst einmal allein weiter durchzuschlagen. ´Raus hier und Hilfe holen, wenn es sein musste, auch für Hinterstetter – mehr wollte Maikes Gehirn nicht mehr denken. Neues Treppenhaus, neues Glück. Wieder zwei Stockwerke nach unten überbrückt, stand sie nun vor einem weiteren Schild mit Zimmernummern und Namen. Wenn nur die verfluchte Nase endlich aufhören würde zu bluten, die Ärmel ihres Pullis waren vom Tupfen schon völlig nass und ekelig. Sie überflog die Zeilen von oben nach unten. Etwas bei der Mitte blieb ihr Blick hängen und ihr Herz kurz stehen: Zimmer 217 – Dr. Ute Zweckelmann. Schlagartig wusste sie, wo sie war. Die Zweckelmann, die kannte sie. Sie hatte auch Pferde und war keine Unbekannte unter den Reitern der Gegend. Jetzt schlossen sich auch einige Lücken in ihrem noch immer stark schmerzenden Kopf: Rudolf, die Zweckelmann, der Sektionssaal, das große, krankenhausartige Gebäude – sie war in der ZAFF. „Zum Glück in keiner Klapse!“ Auch das hatte sie laut ausgesprochen und wieder flogen ihre Hände zum Mund. Jetzt musste sie sich eingestehen, dass sie mit ihren Nerven am Ende war. Beim kleinsten Geräusch würde sie sicherlich… schreien. Dicht hinter ihr ertönte wieder das Keuchen und Maike schrie – kurz und schrill und laut.
Thomas Lehner und Ute Zweckelmann sahen sich erstaunt an. Sie wussten zwar noch immer nicht, was sie hier in der ZAFF erwarten würde, aber dass kurz nach ihrem Eintreffen ein wirklich markerschütternder Schrei durch die Gänge hallte, hatten sie zu keiner Zeit gedacht. Selbst die taffe Ute Zweckelmann war jetzt etwas blass um die Nase, als sie leise stammelte: „Thomas, wir sollten nachsehen, was da los ist!“ „Ute“, erwiderte dieser zögernd. „Ute, ich glaube, Du solltest Deinen Nachtportier anfunken. Ich weiß ja nicht, ob wir wirklich die Polizei benötigen, aber der sah zumindest sportlich und stark aus.“ „Gute Idee!“ Beinahe erleichtert ließ Dr. Zweckelmann die rechte Hand zur Gesäßtasche der etwas zu eng an ihrem massigen Körper anliegenden Cordhose wandern. Sie stockte. „Mist, in der Aufregung habe ich mein Handy zuhause vergessen!“ Sie schickte ein paar derbe Flüche hinterher, bevor sie Lehner zuraunte: „97!“ Er schaute sie fragend an. „Was?“ „Der Portier hat die Durchwahl 97. Also, wähle: Null…“ Lehner kramte mit beiden Händen in den großen Manteltaschen – ohne Erfolg. Er stöhnte „Mein Handy steckt in der Halterung im Auto.“ und sah nur noch, wie Zweckelmann die Augen verdrehte und die Achseln zuckte. Dann packte sie Lehner am Arm und zog ihn vorwärts. Er war sich nicht sicher, ob das eine so gute Idee war – aber was blieb ihm übrig. Sehnsüchtig dachte er an seine Frau Margit, die mittlerweile sicher in ihrem warmen Bett lag und beim Warten auf ihn bereits eingeschlafen war.
„Maikeee…“ Es war mehr ein Stöhnen als ein ausgesprochenes Wort. Entgeistert starrte Maike auf Rudolf, der in einer weißen Hose, wie Ärzte sie tragen, sowie weißen Sandalen steckte. Oben herum hatte er nichts an außer einen weißen Kittel. Und überall war Blut. Als sie ihn einmal komplett gemustert hatte, war Maike klar, dass all das Blut aus einer Narbe in Rudolf rechter Leiste kommen musste, etwa an der Stelle, an der sie damals… „Maike, das ist alles deine Schuld!“ Weinte er etwa? „Ähm…“ Nicht besonders geistreich, musste Maike eingestehen, aber was sagt man denn in so einer Situation. „Hey, lange nicht gesehen, wie geht`s?“ oder „Irgendwie hatte ich dich besser aussehend in Erinnerung!“ waren zwar Sätze, die zwar zu Maike gepasst hätten, aber – so musste sie sich selbst eingestehen – gerade wohl nicht angebracht waren. Außerdem war nicht mal mehr ihr bei dem Anblick und ihrer nervlichen Verfassung nach Scherzen zumute. Mit dünner Stimme fragte sie schließlich: „Hast“, sie räusperte sich und ihre Stimme wurde dadurch etwas fester. „Hast Du mich hierher gebracht?“ „Ja.“ Ziemlich erstickt kam das kurze Wort über Rudolfs Lippen. „Warum?“ Mehr wusste Maike nun wirklich nicht mehr. „Weil ich Dich noch für einen einzigen Abend wiederhaben will.“ „Du willst was?“ Das war Maikes Stimme, wie Rudolf sie kannte – laut, stark und irgendwie immer leicht spöttisch.
Da wusste er, dass er alles richtig gemacht hatte. Er steckte die linke Hand in die Kitteltasche und zückte einen kleinen Gegenstand, den er nun auf Maike richtete, während er mit irrem Blick kleine Schritte auf sie zumachte. Jetzt hatte er sie da, wo er sie haben wollte…
„Ute?“ Lehner war schon etwas außer Atem, Dr. Ute Zweckelmann legte ein für ihr Köpergewicht und ihre Statur überraschend schnelles Tempo an den Tag. „Ute, wohin willst Du denn?“ „In mein Büro!“ keuchte Zweckelmann. Auch ihr wurde die Luft langsam knapp, aber der Schrei war ihr so durch Mark und Bein gegangen und sie wusste, dass im Notfall weder sie noch ihr hagerer Kollege Lehner unbewaffnet etwas ausrichten konnten. „Wir rufen von dort aus den Portier zur Hilfe, der soll uns am Büro abholen und dann gehen wir zu dritt weiter.“ Das überzeugte Lehner und so öffnete er ihr, ganz der Kavalier der alten Schule, die gläserne Tür zum Treppenhaus. „Bitte nach Ihnen“, wollte er schon sagen, aber er verstummte sofort, als er Stimmern hörte. Er drehte sich zu Zweckelmann um und legte den Zeigefinger auf seine Lippen.
„Du hast mich verlassen, und davor hast Du mir das hier angetan!“ Mit einer Mischung aus Schluchzen und Schreien versuchte Rudolf Hinterstetter seiner Wut Luft zu machen. Er stand nun direkt vor Maike, die zunächst Schritt für Schritt rückwärts gewichen war, nun aber mit dem Rücken direkt an der Bürotür von Frau Dr. Ute Zweckelmann stand. Die Panik war nun wieder da. Was sollte sie tun? Schon früher war Rudolf manchmal unbeherrscht, und in solchen Situationen hatte sie nie den passenden Ton gefunden. Das war jetzt wie an ihrem letzten Abend. Auch da war die Situation zwischen ihnen komplett eskaliert und Maike erinnerte sich, wie froh sie war, als sie nach diesem Streit einfach Hals über Kopf aus dem Haus gelaufen war. Weg, einfach nur weg, mehr gab es damals nicht mehr in ihrem Kopf. Und mehr gab es auch jetzt nicht. Einen letzten Ausweg gab es noch. Vielleicht war das Büro ja nicht abgesperrt. HInterstetter schrie noch immer und Maike ließ unbemerkt hinter sich die Hand zur Türklinke wandern, sie drückte sie behutsam nach unten – abgeschlossen. Das war`s jetzt. „Du weißt sicher nicht, was heute für ein Tag ist – oder?“ Das letzte Wort klang wie eine Drohung. Da Maike – auch aufgrund ihrer Nachtschichten – manchmal nicht wusste, was für ein Wochentag gerade war, wusste sie auf Anhieb auch kein Datum. „Der 11. Feb…“ „Falsch! Der 9., heute ist der 9. Februar! Heute vor wie vielen Jahren hast Du mir das angetan – na, wie viele Jahre ist es her? Weißt Du wenigstens das? Nein? Siehst Du, das wusste ich doch. Und deshalb will ich Dich leiden sehen! Zieh Deinen Pullover hoch!“ Maike sah ihn ungläubig an. „Hoch!“ Seine Stimme war nur noch ein schrilles Quieken. Mit dem Skalpell zeigte Rudolf jetzt zitternd auf Maikes Leiste und mit einem Mal wusste sie was er vorhatte. Mit einem Mal war sie wieder bei ihrem letzten Abend:
„Zieh den Pullover hoch!“ „Nein, Rudolf, lass das, ich will nicht. Bitte geh doch einfach!“ Maike versuchte es nochmal mit einem flehenden Tonfall. „Hoch!“ Auch damals überschlug sich seine Stimme schon. Seit Stunden hatten sie sich nun nur noch gestritten. Maike hatte ihm schon unzählige Male gesagt, dass sie nicht mehr mit ihm zusammen sein wollte, dass er ihr zu sehr klammerte, dass ihr das Ganze mit den gekauften Pony, dem gebauten Stall und vielen anderen Sachen einfach zu viel war. Aber er hatte es nicht verstanden. „Aber ich liebe Dich doch. Ich mache das doch alles nur, weil ich Dich liebe, weil ich mit Dir zusammen sein will. Mit Dir, nur mit Dir! Mit keiner anderen!“ Er hatte sie zum Sofa gedrängt. „Nein, Rudolf, bitte lass das jetzt!“ Die bis dato tapfere und eher wutgeladene Maike bekam nun wirklich Angst, als sie sah, dass sich Hinterstetter das kleine Brotmesser vom Esstisch schnappte, an dem sie zuvor noch zusammen Abendbrot gegessen hatten. Er hob es bedrohend vor sich und ging langsam auf Maike zu. „Entweder Du ziehst Dich jetzt aus, oder…“ Doch Maike packte blitzschnell ihre Leselampe mit dem Eisenfuß, die neben ihr auf dem Couchtisch stand, und schlug ihm diese über den Kopf. Sie sah nur noch, wie Rudolf die Augen nach oben verdrehte und dann ohnmächtig zu Boden ging. So ein Schwein, so ein mieses Schwein! Sie hätte ihn schon viel eher verlassen sollen. Eigentlich wäre der Schlussstrich schon nach dem ersten Wutanfall nötig gewesen; damals, als sie ihm gesagt hatte, dass sie auf keinen Fall mit ihrem Pferd nach Österreich ziehen werde. In seiner Rage hatte er ihr damals drei schallende Ohrfeigen verpasst. Rechts, links, rechts – so schnell hatte Maike gar nicht schauen können. Gleichzeitig mit dieser Erinnerung kamen ihr Bilder in den Kopf, auf denen Rudolf sich im Nachhinein mehrmals dafür entschuldigt, Blumen und Pralinen gebracht hatte. Obwohl Maike solche Dinge nichts bedeuten, hatte sie ihm verziehen. Nur leider blieb es nicht dabei. Verbale Entgleisungen und blaue Flecke an Maikes Körper waren von da an keine Seltenheit. Da sie aber immer ungern über Unangenehmes sprach, hatte sie bis heute mit niemandem darüber geredet. Nicht einmal ihre besten Freundinnen wussten davon. Doch in diesem Moment hatte Maikes Herz bis zum Hals geschlagen, sie atmete schnell und hektisch, war völlig in Rage. Während sie versuchte, sich wieder zu beruhigen, ließ sie ihren Blick über den nackten, muskulösen Oberkörper von Rudolf wandern. Er hatte sich sein Hemd schon ausgezogen. Er wusste, dass sie diese eine durchtrainierte Stelle an seiner Leiste besonders attraktiv fand. Und genau an dieser blieb ihr Blick jetzt hängen. Warum genau sie das getan hatte, wusste sie schon gleich darauf nicht mehr, aber sie hatte spontan das kleine Brotmesser in ihre rechte, zitternde Hand genommen und ganz dilettantisch „Schwein!“ in seine Haut geritzt. Nicht nur oberflächlich, nein, so tief, dass es stark blutete. Dann schnappte sie sich einen Zettel, schrieb „Verpiss` Dich einfach!“ darauf, legte ihm diesen auf seine Wunden, zog sich Jacke, Schal und Mütze an und rannte aus dem Haus.
„Siehst Du meine Wunde? Siehst Du sie?“ Rudolf hörte selbst, wie hysterisch er klang, aber er musste seinen Gefühlen irgendwie Luft machen. So lange schleppte er sie nun schon mit sich herum. Er spürte, wie seine linke Hand fahrig durch seine verschwitzen Haare fuhren und wie die Hand, mit der er das Skalpell hielt, zitterte. Er versuchte, lang auszuatmen, sich zu sammeln. Was war nur mit ihm los? So lange hatte er auf den Moment gewartet, er hatte sich richtiggehend darauf gefreut. Wahrscheinlich war es die Wunde, die so stark blutete. Dass Maike auf seine Frage antwortete, nahm er nur entfernt wahr. „Ja, natürlich sehe ich sie. Was hast Du denn da gemacht?“ „Was ich gemacht habe? Ich habe Dich aus mir herausgeschnitten!“ Er sprach so scharf und tonlos, dass er dabei Speichel spukte. „Glaubst Du eigentlich, es macht Spaß, mit so einem beschissenen Tattoo herumzulaufen?“ Bei dem Wort „Tattoo“ gestikulierte er wild Anführungszeichen mit seiner linken Hand in die Luft. Ich kann mich in keiner Badehose im Schwimmbad zeigen geschweige denn nackt vor einer Frau.“ Die Tränen waren nun versiegt, er spie seine Wut förmlich aus seinem Mund. Es musste einfach alles aus ihm heraus. Er war so wütend aber irgendwie traurig und verzweifelt zugleich, als er seine Maike so entsetzt und angsterfüllt vor sich stehen sah. Egal, dachte er sich, das zog er jetzt durch! „Du hast was?“ Maike blickt noch immer auf die blutende Wunde an Rudolfs Leiste. Das „Tattoo“, wie er es nannte, war wohl der vernarbte Schriftzug von damals – und in der Tat war davon nichts zu sehen. Aber Hinterstetter ließ sich nicht mehr auf ein Gespräch ein, keuchend drückte er Maike seine linke Hand an den Hals und presste sie damit an die Tür von Frau Dr. Zweckelmanns Büro. In seiner rechten hielt er noch immer das Skalpell und schob damit mit einem Ruck Maikes Pulli und das T-Shirt, das sie darunter trug, nach oben. Jetzt würde er sich rächen. Endlich. Er setzte das Skalpell an Maikes dünnem Bauch genau am oberen Ende des Hüftknochens an. „Miese Schlampe, miese Schlampe…“ Wie ein Mantra murmelte er diese Worte und ritze den ersten Schnitt in Maikes Haut. Sie schrie auf. „Na, tut das weh? Tut Dir endlich auch mal was weh?“ „Rudolf, bitte, das ist doch irre!“ „Du hast mich irre gemacht, Du allein! Ich hätte alles für Dich gemacht, wenn Du nur mit mir nach Österreich gezogen wärst. Wenn Du mich nur nicht verlassen hättest.“ „Du hast mir mein pinkes Handy gestohlen, oder? Ich habe es gar nicht verloren. Und Du hast mich beobachtet – wahrscheinlich bist Du jedes Mal auf Deinen Touren wieder hierhergekommen. Gib es zu!“ Nicht nur weil sie ihn ablenken wollte, sondern auch, weil ihr diese Tatsache so verrückt vorkam, schrie Maike nun Rudolf Hinterstetter an. Doch dieser grinste nur und wiederholte diabolisch: „Wenn Du mich nur nicht verlassen hättest!“ Damit setzte das Skalpell zum zweiten Schnitt an. „Aber Du bist eben auch einfach nur eine miese Schl…“
Weiter kam er nicht. Wie an dem Abend damals sah Maike, wie die Augen von Rudolf Hinterstetters nach oben rollten und er ohnmächtig auf den PVC-Boden sank. „Vielen Dank!“ War das letzte, was sie kraftlos sagen konnte, bevor sie sich langsam, noch immer mit dem Rücken an der Bürotür, zu Boden gleiten ließ.
Miri: „Dein Ernst? Die Zweckelmann hat dem Vollidioten einfach eine ins Genick gegeben?“
Steffi: „Und Du hast dem damals wirklich dieses Tattoo verpasst?“
Miri: „Leute, mein Papa ist jetzt quasi der Held der Story!“
Steffi: „Nein, wir sind die Helden – besser gesagt, die Heldinnen.“
Miri: „Und das Tattoo hat er sich tatsächlich mit einem Skalpell aus der Haut geschnitten?“
Steffi: „Ist Deine Wunde tief?“
Miri: „Meinst Du, er wollte da „Miese Schlampe“ einritzen?
Steffi: „Hm, eigentlich ist auch dieser Robert ein Held, der hat ja auch die Polizei gerufen – nicht nur wir.“
Miri: „Aber ohne uns wäre die noch länger im Dunklen getappt, die wussten bis wir anriefen ja nur, dass Du vom Speditionsgelände verschwunden warst – warum auch immer.“
Steffi: „Der Robert hätte mir auf Facebook ruhig mal antworten können!“
Miri: „Kommt der Rudolf jetzt aber hoffentlich in die Klapse?“
Steffi: Sicher wird der jetzt weggesperrt. Der war ja wohl schon lange von Sinnen… auf wie vielen Bildern hat er Deinen Bauch fotografiert?!?
Maike saß, endlich wieder grinsend, mit frisch versorgter Bauchwunde, auf einem Krankenhausbett – sie hatte ihr Handy auf Vibration gestellt, denn die Fragen ihrer Freundinnen prasselten nur so auf sie herein. Und so viel „I`ve been looking for freedom“ konnte sie jetzt beim besten Willen noch nicht ertragen. Morgen wäre auch noch ein Tag – und da könnten sie alle drei zur Abwechslung ja mal eine Telefonkonferenz abhalten. Sie sah auf die Uhr, es war 2:37 Uhr. Maike schickte noch einen Schlaf-Smiley in die Gruppe und tat etwas, was sie sonst wirklich nie tat: Sie schaltete ihr Handy aus.
Anna M. Dittus
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